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Parallelgeschichten

Parallelgeschichten

Titel: Parallelgeschichten
Autoren: Péter Nádas
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eine noch schwierigere Aufgabe ergab sich, als der Rahmen selbst Risse bekam und dann brach.
    Die unregelmäßige Bruchfläche des Bügels strich er behutsam mit heißem Teer ein, und als es erstarrt war, umwickelte er den Bügel straff mit einem in Teer getauchten Faden, den umwickelte er mit einem kaum dickeren Kupferdraht. Die Reparatur des Rahmens war schwieriger. Mit einer glühend heißen Nadel schmolz er Löcher in den Kunststoff. Dann dauerte es noch einmal so lange, bis es ihm gelang, eine winzige Klammer herzustellen, die in diese Löcher passte und beidseits gut hielt.
    Er hielt den Nasenbügel zwischen zwei Fingern hart fest, ja, hart, zu zartes Zugreifen konnte viel mehr Schaden anrichten. Während er mit dem weichen Wildleder die Gläser reinigte und darauf achtete, dass sein Anspruch auf Sauberkeit nicht größer war, als das alte Gestell noch vertrug, beschäftigte er sich eigentlich mit dem, was an der inneren Natur der Dinge mit menschlichem Verstand vielleicht nicht mehr fassbar ist, auch wenn es keineswegs geheim bleibt.
    Das Gefühl heimtückisch lauernder Gefahren veranlasst einen jeden zu Maßhaltung, obwohl zuweilen auch Maßlosigkeit vom Glück begünstigt werden kann.
    Von ihrer Kompanie waren siebenundzwanzig Mann zwischen den weit weg ins Nichts auslaufenden Dünen übrig geblieben, wo sie seit zwei Tagen eingekesselt waren. Rückzug war unmöglich, höchstens ins Meer, die Lebensgefahr bewog die einen, sich zu ergeben, andere harrten aus und suchten Schlupfwege. Das waren die letzten Minuten, warum sollten sie jetzt sterben. Sie mussten auch aufeinander aufpassen, auch untereinander gerieten sie sich in die Haare, brüllend und fauchend, in ihnen waren nur noch endlose Flüche. Um ja nicht den Verstand zu verlieren. Um einander ja nicht zu gefährden. Allein kam man nirgendshin, und noch länger in einer unbekannten Landschaft umherzuirren hatte mit diesem gefährlichen Trupp keinen Sinn. Sie wussten, dass da irgendwo das Meer war, sie spürten es auch, aber keiner hätte sagen können, was er spürte.
    Ein Feldwebel hielt sie bei der Stange, er war geradezu berauscht von den aussichtslosen Kampfhandlungen der vorangegangenen Tage und der schweren Pflicht, Menschen zwischen Leben und Tod hindurchzuführen. Fervega hieß er. Er sagte mit müdem Blick, seinetwegen könne jeder gehen, wohin es ihm beliebe, aber solange er bei ihm sei, müsse er gehorchen. Bis dahin hatten sie ihn eher für einen zahmen Menschen gehalten, vielleicht hatten sie nicht gemerkt, dass sein trüber Blick von kaum gebremster, blinder Wut herrührte und nicht von der Schlaflosigkeit, die sie alle benommen machte und quälte. Sie hatten nichts zu essen, und vor allem kein Trinkwasser. Hier würden sie auch keins finden, das wussten sie. Sie hatten keine Ahnung, wo sie waren. Sie hatten eine herausgerissene Seite aus einem deutschen Schüleratlas, aber es fehlte ein Orientierungspunkt. In dieser endlos weiten, flachen, keinen Schutz bietenden Landschaft befanden sie sich ganz nahe zum Meer, aber keiner von ihnen hatte es je gesehen, und sie wussten nicht, auf welche Art die Dinge an der Küste die Nähe des Wassers signalisieren. Sie mussten zuerst von der Landstraße, dann von einer Art Pfad abweichen, obwohl das in der ganzen Gegend das einzig Vertraute war. Feldwebel Fervega war im zivilen Leben Mechaniker, ein Mann mit feinen Händen, die anderen waren ungehobelte Bauernburschen, und einer von ihnen war Zigeuner.
    Wahrscheinlich gelangten sie mehrmals in unmittelbare Wassernähe, sie konnten aber die rhythmische Dünung nicht vom Sturmwind unterscheiden, der im Nichts um sich schlug und wimmerte.
    Ihr ungeübter Blick sah am Horizont den Zug kahler Dünen. Sie gingen durch einen Wachtraum, das Grau blendete sie.
    Nach einiger Zeit hatte Fervega heraus, dass der Wind, der sie packte und ihnen mit aller Kraft um die Ohren schmetterte, schwächer wurde, musikalischer sozusagen, wenn sie weiter ins Landesinnere gelangten, und stärker, wenn sie wieder in Wassernähe waren. Etwas Ähnliches galt wohl auch für die Sicht. Wo das Wasser nahe war, gab es keinen Himmel mehr, keine unterscheidbaren Wolken. Es fiel ihnen schwer, von allen diesen unbekannten Dingen und Erscheinungen ihre eigenen Visionen und Sinnestäuschungen zu trennen. Trotzdem gelangte Fervega zum Schluss, dass es keinen Sinn hatte, mit dieser aufeinander angewiesenen Handvoll Männer in unmittelbare Berührung mit dem Wasser zu kommen, schon weil er weder
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