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Niemand hört dich schreien (German Edition)

Niemand hört dich schreien (German Edition)

Titel: Niemand hört dich schreien (German Edition)
Autoren: Mary Burton
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Prolog
    Sonntag, 6. Januar, Sonnenuntergang
    »Es ist Zeit, Ruth.«
    In den leisen Worten des Mannes lag eine düstere Endgültigkeit. Das Herz wurde ihm wahrhaft schwer, als er jetzt aus dem vom Frost beschlagenen Fenster blickte. Draußen bogen sich die Kiefern unter dem Gewicht des Eises. Arktische Windböen jagten über die Felder, wirbelten den Schnee auf und zeichneten kleine Spiralen hinein.
    »Ich will nicht, dass du gehst«, sagte er und drehte sich zu Ruth um.
    Die Frau saß mit gesenktem Kopf auf einem hölzernen Stuhl. Das dunkle Haar fiel ihr ins tränenüberströmte Gesicht. »Bitte«, flehte sie.
    Eine hellrosa Tapete, weiße, durchscheinende Vorhänge und ein großer geflochtener Teppich aus gelben, violetten und blauen Strängen zierten den Raum; beherrscht wurde er jedoch von einem weißen Himmelbett, auf dem eine rosa Decke und Dutzende von Stofftieren lagen. Er hatte das Zimmer eigens für sie und die anderen eingerichtet.
    »Schsch. Ich muss dich gehen lassen. Wir wussten doch beide, dass es irgendwann so weit sein würde.« Traurigkeit schnürte ihm die Kehle zu.
    Ruth hob kaum merklich den Kopf. Sie sah auf ihre Handgelenke hinunter, die an die Armlehnen gefesselt waren. »Nein. Nein. Ich will nicht weg, ich will bei dir bleiben.«
    Das heisere Flüstern war gelogen. Instinktiv begriff sie, was Weggehen bedeutete. Sterben.
    In der Hoffnung, sie beruhigen zu können, durchquerte er den Raum. »Du brauchst keine Angst zu haben.« Er ging neben ihr in die Knie und legte die Hand auf die Schnur, mit der ihr weißes Handgelenk festgebunden war. Nach Tagen vergeblichen Kampfes war es wund und blutete. »Schon gut, Ruth. Es geschieht zu deinem Besten. Bald wirst du es verstehen«, sagte er zärtlich.
    Tränen strömten ihr über das Gesicht. »Nein. Lass mich doch hierbleiben.« In ihren Augen stand Verzweiflung. »Wir können immer noch eine Familie sein.«
    »Du musst Vertrauen zu mir haben, Ruth. Ich weiß, was das Beste für dich ist.« Sanft berührte er ihre Wange.
    Sie zuckte zusammen, bemühte sich dann aber um ein Lächeln, als ihre blassgrünen Augen seinem Blick begegneten. »Allen, bitte.«
    Er hatte es gern, wenn sie seinen Namen sagte. »Ich kann nicht. Das weißt du doch.«
    Liebevoll umfasste er ihr Kinn und hob es leicht an, um ihr in die Augen zu sehen. Erneut rannen ihr Tränen über das Gesicht und benetzten seine schwielige Hand. Für einen Augenblick geriet sein Entschluss ins Wanken. Eigentlich wollte er sie gar nicht wegschicken. Liebend gerne hätte er sie für immer hierbehalten.
    Doch das ging nicht.
    Das konnte er nicht tun.
    Er erhob sich und trat hinter sie. Sanft strich er ihr übers Haar, das jetzt nicht mehr nach Kokosnuss und Sommer, sondern nach Angst und Schweiß roch. »Ich fand unsere gemeinsame Zeit ebenfalls wunderschön. Ich war vorher so lange allein. Aber jetzt musst du zur Familie .«
    Sie schüttelte den Kopf, war jedoch nicht imstande, zu ihm aufzublicken. »Bitte«, wimmerte sie. »Nicht.«
    Allen schob das Haar aus ihrem schlanken Nacken. »Am Ende wirst du mir dankbar sein.«
    Jahrelang hatte er sie gesucht und immer gewusst, dass er sie eines Tages finden würde. Dass sie wieder zusammen sein würden. Als er sie dann gefunden hatte, hatte er innerlich gejubelt. Wochenlang hatte er sie beobachtet: wie sie zur Kirche ging, zu ihrem Sekretärinnenjob in einem Ingenieurbüro fuhr, einkaufte. Er war dabei gewesen – im Schatten verborgen –, als sie am Grab ihrer Eltern geweint hatte. Er hatte sie genau studiert, sie bewundert und auf die perfekte Gelegenheit gewartet, sie hierher zu bringen, an diesen besonderen Ort, den er erschaffen hatte.
    Er ließ die Hände unter Ruths dichte Mähne gleiten und streichelte die weiche Haut an ihrem Hals. Sie fühlte sich kühl an, und unter seinen Fingern pochte ihr schwacher Herzschlag. Die Wirkung der Medikamente, die sie schläfrig und kaum ansprechbar machten, ließ langsam nach. Bald würde sie wieder kämpfen und schreien, bis sie heiser war.
    Er hatte ihr die Medikamente nicht geben wollen, doch sie hatte so viel Widerstand geleistet, hatte sich geweigert, mit ihm zu sprechen. Sie hatte sich gewehrt, ihn beschimpft und zurückgestoßen. Die Medikamente hatten sie ruhiger werden lassen, sodass sie imstande war, das Gute in ihm zu erkennen.
    »Ich wünschte, uns bliebe mehr Zeit«, sagte er.
    Sie drehte den Kopf zur Seite und schaute zu ihm hoch. Ihr Blick war voller Verzweiflung. »Wir könnten doch immer noch
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