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Panic

Panic

Titel: Panic
Autoren: Mark T. Sullivan
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durchzuckten, als ich Ryan tötete. Ebenso wenig sagte ich ihr, dass ich Ryans Atem inhaliert hatte und er jetzt in mir lebte. Ich schlage mich so gut es geht durchs Leben und versuche, es langsam wieder zusammenzusetzen.
     
    Die Kanufahrt gestern war ein wichtiger Schritt zum Ziel. Mitchell ist an der Stelle begraben, wo die beiden Flussarme des Penobscot sich wieder vereinen. Katherine und mein Vater liegen hinter ihm, eine Terrassenstufe höher.
    »Vermisst du deine Mami und deinen Daddy?«, fragte Emily, als wir endlich vor den Grabsteinen standen. Der warme Südwind frischte auf und blies mir die Haare ins Gesicht.
    »Mami?«
    »Ja«, sagte ich. »Jeden Tag.«
    Sie fragten mich, was für Menschen meine Eltern und Mitchell gewesen waren, und ich erzählte ihnen ein paar Geschichten, die mir immer in den Sinn kommen, wenn ich an sie denke. Meine Mutter, sagte ich, habe alle Farben der Forelle in sich vereint, mein Vater hätte an Tagen wie diesem Lieder an den Frühling gesungen und mein Großonkel hätte fest daran geglaubt, dass alles in der Natur lebendig war, sogar der dünnste Grashalm und das kleinste Steinchen.
    Sie sahen mich ein wenig verdutzt an. Ich lachte, zerzauste ihr Haar und sagte ihnen, dass es lange dauern würde, bis ich ihnen alle Geschichten erzählt hätte. Dann würden sie ein wenig mehr verstehen.
    Eine Weile standen wir schweigend vor den Gräbern; dann zogen Patrick und Emily los, um das Flussufer zu erkunden. Ich setzte mich solange im Schneidersitz zwischen die Gräber und sah zu, wie ein Eisvogel von der Spitze einer Schierlingstanne am östlichen Ufer aufflog. Der Vogel flitzte über den Fluss, legte die Flügel an, stieß ins Wasser und tauchte fast augenblicklich wieder auf, einen zappelnden Fisch im Schnabel.
    »Mami!«, rief Patrick und hielt einen glatten weißen Stein in die Höhe, den er entdeckt hatte. Emily hatte noch immer das Nest in der einen Hand, während sie mit der anderen einen Stock hielt und damit im Wasser herumstocherte. Ob der Stein, das Nest oder der Stock wohl einen Platz finden würden in ihren Gedanken und Träumen, wie bei den Kindern meiner Vorfahren vor zehn oder zwanzig Generationen? Es gab darauf keine Antwort, und das wusste ich auch. Ich konnte nur hoffen, dass diese Dinge einen Platz in ihren Herzen finden würden.
    Was mich betrifft, so läuft kein Hirsch mehr durch meine Träume. Stattdessen sehe ich bei meinen Streifzügen durch den Wald meines Unterbewusstseins vor allem den Gesichtsausdruck meines Vaters an dem Tag, als ich nach Hause kam und Katherine tot am Ufer unseres Teichs lag.
    All die Jahre hatte ich geglaubt, sein Gesicht drücke Genugtuung und Freude darüber aus, dass er seine Weltsicht konsequent durchgesetzt hatte. Doch als ich Ryans Leiche verließ und durch die Dämmerung zurück zum Blockhaus wanderte, änderte sich meine Sicht auf die Vorfälle, die zu Katherines Tod geführt hatten, und diese Sicht ist es, die mich fast jede Nacht heimsucht.
    Ich träume, dass meine Eltern auf genau so einen Tag gewartet hatten: Meine Mutter sollte im Frühling sterben, dem Monat der Erneuerung, entsprechend einer alten Auffassung vom Universum. Dieses Universum war von einer unsichtbaren, geheimnisvollen Kraft durchdrungen. Hier herrschte die Natur, und ein gesegnetes Leben konnte nur eines im Einklang mit der Natur sein.
    Ich träume, dass mein Vater wartete, bis ich zur Schule gefahren war. Dann ging er zu meiner Mutter zurück. Er führte Katherine die Wiese hinunter, wobei seine Sinne die Natur ringsum besonders scharf wahrnahmen – den Gesang der Amseln in den Weiden, das lärmende Quaken der Ochsenfrösche im Schilf, das letzte Erröten des Flieders, die sanfte Brise über der Wasseroberfläche. Das ganze fröhliche Frühlingsgetriebe.
    Allerdings erfüllte meinen Vater kein religiöser Wahn, wie ich immer angenommen hatte, nur das schmerzliche Gefühl, dass er von der Umgebung getrennt war, die er sah und doch nicht sah, weil seine ganze Konzentration allein Katherine galt. Denn sie war seine Kraft gewesen, das schlagende Herz, das seiner Welt Sinn verlieh.
    Ich träume davon, wie die beiden in der weißen Gartenschaukel im Pavillon sitzen und zusehen, wie sich das Licht im Wasser spiegelt und wie die Eintagsfliegen tanzen. Sie umarmen einander ausgiebig, weil sie glauben, das Richtige zu tun, indem sie, den Regeln ihrer Religion gemäß, im Einklang mit der Natur leben und sterben. Und dann höre ich, wie mein Vater mit seiner tiefen,
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