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Panic

Panic

Titel: Panic
Autoren: Mark T. Sullivan
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rauchigen Stimme nicht das Geburtslied des Frühlings singt, sondern das Abschiedslied, das Lied des Herbstes.
    Und als er zu Ende gesungen hat, weiß er nicht weiter. Es ist Katherine, die den Entschluss fasst, aufzustehen und an den Teich zu gehen. Sie winkt ihn zu sich, watet lächelnd ins Wasser, sinkt mit den bloßen Füßen in den weichen Schlamm, den der Winter und zwei Monate Frühling über den Sand gelegt haben. Ihr Nachthemd bauscht sich um ihre Knie.
    Meinem Vater ist übel, als er aufsteht und ihr hinterhergeht. Er erträgt kaum den Schmerz, als er sie ein letztes Mal küsst, ehe sie sich nach hinten ins Wasser fallen lässt, seine Hände nimmt und sich auf die Brust legt. Jetzt übernimmt er die Führung, weil sie es so möchte. Er drückt sie unter Wasser, bis ihr kurzer Kampf zu Ende ist, sieht aber nicht, wie die letzten Luftblasen ihre Lunge verlassen, sondern wie die letzten Eintagsfliegen dieses Morgens auf die Wasserfläche flattern und sterben.
    In meinen Träumen kräuselt sich das Wasser, und ich sehe jemanden, den ich nicht gleich erkenne. Nur langsam dämmert mir, wer es ist: mein Vater, aber etliche Jahre jünger. Und dann kräuselt sich das Wasser erneut und ich sehe, dass ich es selbst bin. Und dann kommen die Trauer und das laute Schreien, das mich immer aus dem Schlaf reißt. Ich schreie, weil ich begriffen habe, dass mein Vater fast fünfzehn Jahre vorher, bevor er im Wald unterhalb des Mount Katahdin Selbstmord beging, gestorben war, weil er meine Mutter ertränkte, so wie ich mich selbst getötet habe, als ich Ryan umbrachte.
    »Mami!«, rief Emily und rüttelte mich aus meinen Gedanken. »Schau doch mal.«
    Ich ging hinunter zum Fluss und fand sie vor einem Fleck aus gefrorenem Schlamm kauern, der in der wärmer werdenden Sonne langsam taute. Es war der Abdruck eines großen Hirsches, den das plötzliche Tauwetter wahrscheinlich auf die Insel gebannt hatte, bis die Wut des Flusses sich legte und er wieder ans Festland schwimmen konnte.
    Ich kauerte mich neben meine Kinder und zeigte ihnen, wie man den Rand der Fährte mit dem Finger nachzeichnete, um anhand der Tiefe das Gewicht des Tiers zu bestimmen und festzustellen, wie viel Zeit vergangen war, seit es die Spur gesetzt hatte. Außerdem konnte man an der Fährte erkennen, in welche Richtung das Tier gelaufen war. Emily und Patrick hörten mir aufmerksam zu.
    »Lass uns die Spur verfolgen«, sagte Emily schließlich.
    »Gute Idee«, erwiderte ich.
    Ich nahm sie bei den Händen und führte sie zu den Birken, wo ich ihnen beibringen konnte, wie man jagt, so wie ich es gelernt hatte.
    Wieder spürte ich diese Schwingung, die mich in Ryan so verstört hatte. Sie verschmolz mit den Worten aus dem Abschiedsbrief meines Vaters. Und zum ersten Mal begriff ich, dass Ryan von dem motiviert worden war, das mein Vater mir in seinem Abschiedsbrief hatte beschreiben wollen. Das Gleiche hatte mich in den zehn Tagen im Camp bestärkt, aber dabei fast verzehrt: Alle Geschöpfe der Natur sind Mörder. Wir müssen morden, um zu leben. Es ist das Gesetz des Waldes. Doch anders als die Tiere sind wir Menschen uns dessen bewusst und müssen jeden Tod als einen kleinen Tod in uns selbst erleiden. Wir tragen die Toten in uns. Und sind durchdrungen von der höchsten, komplexesten Manifestation dessen, was meine Vorfahren als die Große Kraft bezeichneten. Sie treibt uns an. Sie sucht uns heim. Sie kann missbraucht werden und dann zerstörerisch wirken. Doch sie kann auch heilen. Sie kann uns bei jedem Tod zu neuem Leben verhelfen. Sie kann Vertrauen schenken, Verzeihung und Gesundheit, wo alle Hoffnung verloren scheint. Manche Menschen suchen sie ihr Leben lang.
    Emily zupfte mich am Ärmel. »Woran denkst du denn, Mami?«
    Ich blieb stehen, warf einen kurzen Blick auf die Gräber meiner Eltern und meines Großonkels hinter uns und sagte: »An die Liebe.« Dann führte ich meine Kinder in den Wald.
    Hier endet meine Geschichte. Und beginnt wieder.

Dank
    Ich danke der Ethnologin Ruth Holmes Whitehead für ihr bemerkenswertes Werk
Stories from the Six Worlds
. Ihre Einsichten in die Glaubens- und Gedankenwelt der Micmac waren mir eine stete Quelle der Inspiration.
    Ebenso viel Dank schulde ich der Anthropologin Barbara G. Myerhoff für ihre Jagdstudie
Peyote Hunt, the Sacred Journey of the Huichol Indians
. Die von ihr beschriebenen Riten der Mara’akame befeuerten meine Phantasie.
    Dank auch an die Jagdexperten Sean Lawlor, David Lawlor, Nick Micalizzi
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