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Hacken

Hacken

Titel: Hacken
Autoren: Christoph Braun
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STRATEGISCHE EINGRIFFE
    Als ich im Jahr 2005 von Berlin in das Dorf Evessen nach Niedersachsen zog, war ich auf der Suche nach einem unbekannten Leben. In der Kohle- und Stahlprovinz war ich aufgewachsen und zwei Großstädte hatte ich kennengelernt, eine kleine, eine große. Das Staunen über die Art und Weise, wie die Leute hier leben, wächst auch nach mehr als fünf Jahren noch. Zunächst bot sich mir, der dieses Leben so blank, so unvorbelastet wie möglich kennen lernen wollte, das Landleben als Idylle dar, als ein gelungenes Landschaftsbild aus Feldern, Wäldern, Hügeln und Tälern.
     
    Ich wurde empfänglich für den Rhythmus der Jahreszeiten. Auch sein Takt erreichte mich über Bildeindrücke, Bilder im Sommer, im Herbst, im Winter und im Frühjahr. Hinzu kamen nach und nach konkrete Erfahrungen, inzwischen bestimmen sie das Bild. Ich lebe hier in keiner Idylle, sondern in einer bedeutenden Agrarregion Mitteleuropas. In einer Landschaft, in der sich die Widersprüche des landwirtschaftlich geprägten Lebens vor der Haustür abspielen, Stützpunkt der Agrargentechnik, bevorzugtes Gebiet der ökologischen Landwirtschaft. Auch das Bewusstsein für die Hintergründe der Strom- und Energieversorgung wird an der Grenze von Niedersachsen zu Sachsen-Anhalt geschärft. Von meinem Schreibtisch aus blicke ich auf den Gebirgszug Asse. Die Helmholtz-Gesellschaft hat hier seit Ende der 1960er-Jahre illegal 125   000 Fässer mit schwachradioaktivem und 1300 Fässermit mittelradioaktivem Müll in die Stöcke gekippt. Inzwischen hat ein riskantes Bergungsprojekt begonnen, das jedoch durchgeführt werden muss, da ansonsten die radioaktive Verstrahlung von Trinkwasser droht.
     
    Die digitalen Informationstechnologien versorgen die hintersten Winkel mit Informationen, die noch vor kurzem den Menschen in der Stadt vorbehalten waren. Land und Stadt gleichen sich aber auch in einem Bedürfnis nach Lebensmitteln aus eigenem Anbau an. So ist in den vergangenen Jahren auch in den Städten eine Vielzahl von Gartenprojekten entstanden. Manchmal kommt es mir vor, als tobe da ein gewaltiger Kampf zwischen Automatisierung und Autonomie. Letztendlich geht es ums Hacken, um das strategische Eingreifen sowohl in das persönliche Leben als auch in komplexere soziale Prozesse.
     
    In Land- und Gartenbau bedeutet Hacken: den Boden derart bearbeiten, dass er durchlüftet wird, Wasser besser aufnehmen kann, dass die wild wachsenden Kräuter nicht dem Anbau in den Weg wachsen. Hacken ist also auch ein Pars-pro-Toto für den Eigenanbau von Pflanzen, denn Hacken geht nur mit der Hand.
     
    Die konventionelle Landwirtschaft dagegen ist heute oft gar keine Handarbeit mehr, sondern ein Schauplatz der avanciertesten digitalen Technologien. High-Tech-Traktoren, Satellitenüberwachung, permanente Bodenuntersuchungen im Chemielabor gehören zumAlltag auf dem Land. Die computergestützte Landwirtschaft bedeutet nur einen weiteren Schritt hinein in die Untiefen der Effizienz und damit in das Kernprogramm der kapitalistischen Logik. Effizienz speist die Programme, nach deren Vorgaben die Konzerne der Weltwirtschaft handeln. Effizienz bedeutet Gewinnsteigerung, weshalb jedes börsennotierte Unternehmen für einen Mangel an Effizienz von den Aktieninhabern bestraft wird. Jedes mittelständische Unternehmen, jeder Kleinbetrieb, jede Selbständige, jede Freiberuflerin müssen dieser Logik folgen. Im Verlauf des 20. Jahrhunderts hat die Landwirtschaft in Mitteleuropa mehrere Prozesse erlebt, deren Ziel das Steigern der Effizienz gewesen ist. Auf die Maschinisierung und das Aufkommen der Agrarchemie in der ersten Hälfte folgte die Entwicklung genmanipulierten Saatguts gegen Ende des Jahrhunderts. Durch Informatisierung und Satellitentechnik herrscht im Agrarraum inzwischen ein Grad von Automatisierung vor, der mit der Notwendigkeit des Anbaus von Lebensmitteln kaum mehr etwas zu tun hat.
     
    Entsprechend haben die Menschen das Gespür für ihre Nahrung verloren. Die Landwirtschaft dient nicht zur Versorgung der Leute am Ort mit Essen, sondern in erster Linie als Pumpe. Geld soll sie pumpen, hinein in die Blasen der Spekulanten. Die Preise von Agrarrohstoffen wie Weizen und Kakao steigen so kontinuierlich an, was in den ärmeren Regionen der Erde eine Ursache für Unterernährung und sogar Hunger bedeuten kann.
     
    Es besteht die Gefahr, dass der Agrarraum zur bloßen Produktionshalle des Kapitals verkommt. So ist auch zu erklären, warum die Verklärung vom
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