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Osama (German Edition)

Osama (German Edition)

Titel: Osama (German Edition)
Autoren: Lavie Tidhar
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nicht sagen. Die Zeiten ohne Mond waren die schlimmsten, für mich. Dann war sie weg, eine Abwesenheit, eine Leere, die kein Stern zu vertreiben vermochte, und jedes Mal hatte ich Angst, sie würde nicht wieder auftauchen. Meine … meine Gewohnheit wurde stärker. Ich rauchte mehr Pfeifen, aber Erleichterung brachten sie mir nicht. Stattdessen fing ich an, mir die Welt vorzustellen, aus der sie gekommen sein musste. Einzelheiten davon kamen mir ungebeten in den Sinn, wenn ich im Rausch war. Anfangs kamen sie zögernd. Daten, Zahlen. Schlagzeilen.« Er lachte. Es war ein Lachen ohne Humor. Er sagte: »Wissen Sie, was ein Journalist ist? Jemand, der noch keinen Roman geschrieben hat. In einer Zeitung konnte ich es nicht schreiben. Eine Zeitlang hatte ich gar kein Bedürfnis zu schreiben. Dann …«
    Sie hatte angefangen, seltener zu kommen. Sie verblasste, hatte er gefunden. Jede Nacht war sie weniger körperlich, weniger da. Nur bei Vollmond erschien sie ihm immer noch fest, präsent … »Sie war ein Geschenk«, sagte er. »Mein Geschenk. Ich dachte nicht in Kategorien von Vergangenheit oder Zukunft. Es gab nur den Moment, wenn sie da war, in meinen Armen, wenn ich sie halten, sie trösten und ihr im Mondlicht über die Haare streichen konnte …«
    Er hatte gedacht, mehr Opium würde helfen, doch das tat es nicht. Stattdessen griff diese andere, imaginäre Welt mehr und mehr auf seine eigene über, bis er die beiden nicht mehr auseinanderhalten konnte. Wenn er durch die Straßen ging, glaubte er manchmal, andere zu sehen, die wie sie waren, Schatten an den Straßenecken, Flüchtlinge von einem anderen Ort, aus einer anderen Zeit, versuchte jedoch nie, mit ihnen zu sprechen. Sie war alles, was er hatte.
    »Und dann war sie weg. Mit dem Vollmond, der am Horizont unterging, war sie weg. Ihr Haar war gesponnenes Silber. Ich hielt ihre Hand in meiner, und sie war durchsichtig, ich konnte ihre Blutgefäße darin sehen, Knochen wie blasse Kristalle. ›Ich glaube, ich sehe sie‹, sagte sie. Das war das Letzte, was sie zu mir sagte. In der nächsten Nacht tauchte sie nicht auf, auch nicht in der folgenden oder der danach.« Er blickte zu Joe auf, ohne dass seine Augen sahen. »Ich war allein.«
    Die dunkle Zeit hindurch wartete er darauf, dass der Mond wiedergeboren würde. Doch auch als er es tat, verstrich die Nacht ohne sie, und er wusste, dass sie nicht zurückkommen würde. »In dieser Nacht habe ich mein erstes Kapitel geschrieben. Ich schlafe kaum noch. Wenn ich die Augen zumache, sehe ich ihn, aber immer in der Ferne, als zusammengekauerte Gestalt mit klaren, kalten Augen, denen ich gleichgültig bin.«
    Joe sagte – flüsternd: »Osama.« Der Name zitterte in der unbewegten Luft, schien für einen Moment eine Form, eine Gestalt anzunehmen, dann war sie weg.
    »Ja«, sagte Mike Longshott. Auch er zitterte, trotz der Hitze. »Mein Held.« Er lachte auf, was eher einem Husten gleichkam. Seine Hände bebten. »Könnten Sie …?«, sagte er. Joe verstand ihn. Ganz in der Ferne schien er leise Stimmen flüstern zu hören. Er erhob sich aus dem Sessel und ging zu Mike Longshott hinüber, half ihm aufzustehen. »Sie ist in dem anderen Zimmer«, sagte der Schriftsteller. Schweiß bedeckte sein Gesicht. Behutsam nahm Joe seinen Arm. Langsam gingen sie zusammen los, der Schriftsteller halb auf Joes Schulter gestützt, und als sie in dem anderen Zimmer ankamen, half Joe ihm, sich auf die Pritsche zu legen, die der Mann sich vor langer Zeit hergerichtet hatte, und während er zusah, wie Longshott sich zurechtlegte, schien etwas in seinem Inneren wie feines Glas zu zerbrechen. »Könnten Sie …?«, sagte Mike Longshott, und Joe, der sich auf die Lippen biss, um den Nebel aufzuhalten, der sich auf seinen Augen niedergelassen zu haben schien, nickte wortlos und half ihm, die Pfeife zu präparieren, indem er das Harzbällchen zwischen den Fingern rollte, obwohl der Geruch ihn benommen machte. Nachdem er dem Schriftsteller das Mundstück der Pfeife in den Mund gesteckt und die Flamme angezündet hatte, um das Harz zu erwärmen, beobachtete er, wie Longshotts Gesichtszüge sich allmählich entspannten und erschlafften, während er die Dämpfe, die die Pfeife hinuntergewandert waren, inhalierte.
    Rausch, hatte Longshott es genannt. Joe blieb, bis die Pfeife leer war und Longshotts Augen, wenngleich geöffnet, ihn nicht mehr sahen. Dann erhob er sich und verließ leise den Raum.

Torheit
    Noch bevor sie auftauchte, wusste er, sie
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