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Osama (German Edition)

Osama (German Edition)

Titel: Osama (German Edition)
Autoren: Lavie Tidhar
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Gesellschaft, und du rauchst zu viel. Du heißt –«
    »Joe«, sagte er. »Ich heiße Joe.« Um ihn herum gähnte ein Abgrund, und die Stimmen der anderen zwitscherten in weiter Ferne wie Vögel. Er verspürte ein plötzliches verzweifeltes Verlangen nach einer Zigarette. »Ich heiße Joe«, sagte er noch einmal, sich an den Namen klammernd, als wäre er ein einzelner Ast über einer Stromschnelle.
    Sie sagte einen anderen Namen. Für ihn ergaben die Worte keinen Sinn. »Du magst Cowboyhüte, würdest aber draußen nie einen tragen«, sagte sie. »Du hältst dich selbst für einen Cowboy, bist es aber nicht –«
    Er sagte: »Hey!«, und sie lächelte beinah, aber nur beinah.
    »– und wenn man dich fragte, würdest du es bestreiten. Du magst Humphrey Bogart, die Sherlock-Holmes-Geschichten liest du immer wieder, du kannst es nicht haben, wenn im Kino Leute neben dir sitzen, du isst gerne Hühnchen mit Pommes, und Bewegung magst du nicht, du gehst lieber unter die Dusche als in die Badewanne, und wenn du gut gelaunt bist, singst du. Kälte magst du nicht, Feuchtigkeit auch nicht. Du trinkst zu viel Kaffee –«
    »Ich liebe Kaffee.«
    »– und sprichst gerne darüber«, sagte sie. »Ich weiß.«
    »Ich mag …«, hob er an, doch sie fiel ihm ins Wort. »Im Bus sitzt du gerne vorne, aber du magst Züge, keine Busse. Du fliegst überhaupt nicht gerne und bestellst immer koscheres Essen, damit du als Erster bedient wirst, und du bittest immer um einen Fensterplatz. Du versuchst, auf Flügen nichts zu trinken, damit du nicht zur Toilette musst, und dehydrierst jedes Mal, wenn du fliegst. Du fotografierst nicht gerne, hältst die telefonische Bestellung von Essen zum Mitnehmen für eine Extravaganz, du trinkst gerne Wein, aber noch lieber Bier, du gehst nicht gerne Kleider einkaufen –«
    »Wer tut das schon …«
    Sie lächelte nicht. »Du stehst gerne, die Hände auf den Hüften, in Unterwäsche in deinem Wohnzimmer und inspizierst dein Reich. Telefone kannst du nicht leiden. Mit dreizehn hast du deinem Penis einen Spitznamen gegeben –«
    Schockiert: »Ich habe nie –«
    »Und hast ihn Hermann genannt, nach dem Kommandeur der deutschen Luftwaffe, was nur du witzig gefunden hast –«
    »Also, das ist –«
    »Du isst gerne im Stehen am Spülbecken. Du magst Chilis, obwohl du am nächsten Tag immer leidest. Du tanzt vor dem Spiegel, wenn du dich unbeobachtet fühlst. Du schiebst dir gerne die Oberlippe an die Nase, um daran zu riechen. Wenn Leute dich fragen, woher du kommst, sagst du gerne, du kämst aus Japan. Auch wenn sie fragen, wohin du gehst. Dein Lieblingswitz lautet: Ein Pferd spaziert in eine Bar, und der Barkeeper sagt: ›Warum das lange Gesicht?‹ Suppe magst du nur, wenn du krank bist. Du rauchst zu viel –«
    »Ja, das hast du bereits gesagt. Ich –«
    »Und du weißt, dass das schlecht für dich ist, hörst aber trotzdem nicht auf.«
    Die plötzliche Stille zwischen ihnen war wie ein heruntergefallenes Glas: Er hatte Angst, es könnte zerbrechen, wusste, dass man sich dann an den herumfliegenden Scherben verletzten könnte. In der unbewegten Luft war das gespenstische Echo von vorbeifliegenden Kampfhubschraubern zu hören. Die lose Haarlocke hing ihr immer noch ins Gesicht. Er streckte die Hand aus, seine Finger berührten ihre Haut, und er schob die Locke weg. Ihre Haut war warm. Ein schwacher Hauch von Patschuli stieg ihm in die Nase. Den Ausdruck in ihren Augen konnte er nicht deuten.
    »Ich erinnere mich an die Explosion«, sagte sie mit leiser Stimme. »Ich glaube jedenfalls, dass ich es tue. Vielleicht hat aber mein Verstand, der ja weiß, dass es eine Explosion gab , sie auch nur rekonstruiert, eine Erinnerung, die nicht real ist – aber woher weiß man das?«, sagte sie, fast flehend, wie ihm schien. »Woher weiß man, was real ist? Wir alle stellen uns Leben wie etwas vom Bildschirm vor.«
    »Du warst Clubsängerin«, sagte er und erinnerte sich an das Blue Note, die Bühne, ihren Gesang. Sie schüttelte den Kopf – müde? Verärgert? –sagte: »Ich habe in einem Kino gearbeitet.« Ein Lachen erstarb, totgeboren. »Und du –«
    »Ich bin Detektiv«, sagte er.
    Sie schlug ihn.
    Fast wäre er rückwärts gefallen. Damit hatte er nicht gerechnet. Ihre Fäuste waren auf seinem Brustkorb, hämmerten auf ihn ein. Sie war beinah einen Kopf kleiner als er. »Du bist …!« Wieder nannte sie den Namen, diesen Namen, der ihm nichts sagte, es sei denn, er hätte es zugelassen. Wieder und
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