Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Osama (German Edition)

Osama (German Edition)

Titel: Osama (German Edition)
Autoren: Lavie Tidhar
Vom Netzwerk:
keiner bestimmten, für ihn nachvollziehbaren Ordnung aufgestellt. Buchstaben des Alphabets tummelten sich dort in einem fröhlichen Durcheinander. Große Bücher standen neben kleinen. Dicke hockten neben schlanken, eleganten Bänden. Wo der Platz nicht ausreichte, waren Bücher aufeinandergestapelt oder seitlich in vorhandene Lücken gestopft worden.
    Joe ließ die Hände sinken. Mit ausgestreckten Fingern drehte er sich, einen Halbkreis beschreibend. Er versuchte, ein Gespür für den Bewohner dieses Raums, dieses Hauses zu bekommen. Lebte hier noch jemand? Ihm fiel eine langhalsige Vase auf, die in einer Ecke des Raums auf einem Podest stand, allerdings ohne Blumen. Er drehte sich weiter, den Kreis vollendend, und da fiel ihm etwas ins Auge. An der Wand neben dem Bücherregal hing etwas, was wie eine eingerahmte Fotografie aussah. Langsam ging er darauf zu. Oben, unmittelbar unterhalb des Rahmens, stand das Wort TIME und am unteren Rand: MANN DES JAHRES. Mit einer Vorsicht, deren Grund er nicht hätte formulieren können, trat er näher. Da tauchte in dem Rahmen langsam ein Gesicht auf, und mit einem Schaudern holte er tief Luft und sah es an …
    Das Gesicht, das aus dem Rahmen heraus seinen Blick erwiderte, war sein eigenes.

Nachmittagsträume
    Einen Moment später lachte er, wenn auch ohne viel Humor. Das war keineswegs eine Fotografie. Es war ein Spiegel mit einem Text, den jemand auf die spiegelnde Oberfläche gemalt hatte. Was hatte er geglaubt, dort zu sehen? Longshott, dachte er. Oder einen Mann mit einem langen Bart und klaren, durchdringenden Augen, den Helden von billigen Thrillern und Selbstmordattentätern. Was er stattdessen bekam, war nur er selbst. Er starrte sein eigenes Gesicht an, das wiederum ihn anstarrte. Kannte er dieses Gesicht überhaupt? Es gab einen Namen, der dazugehörte, einen Beruf, aber waren diese real, oder waren auch sie reine fabriques , ebenso falsch wie ein gefälschter Pass? Er schüttelte den Kopf, und das Gesicht in dem Spiegel ahmte die Bewegung nach.
    Er drehte sich weg. Ging zum Schreibtisch. Wieder verspürte er den Drang, zu berühren, zu fühlen. Nacheinander nahm er jeden Gegenstand in die Hand, untersuchte ihn, stellte ihn auf den Schreibtisch zurück. Stifte, blau und schwarz und rot. Einen Kinderbleistiftspitzer. Er hob ihn an die Nase und roch daran, es gab jedoch keine Anzeichen von frischen Holzspänen, keine Anzeichen dafür, dass er kürzlich benutzt worden war. Steine, vom Wasser geglättete Kiesel. Muscheln, die von irgendwo anders her stammen mussten, aus einem weit entfernten Meer. Ihre Farben waren die Töne des Sonnenuntergangs. Er strich mit dem Finger eine Feder glatt. Er wog die Münzen in der Hand. In das Metall geätzte Gesichter starrten ihn mit stolzer Miene an, Könige und Königinnen und Kaiser und Präsidenten. Eine nach der anderen zog er die Schubladen auf. Sie waren größtenteils leer. In der zweiten von drei Schubladen fand er einen einzigen Gegenstand. Einen dünnen schlichten Goldring, eine Frauengröße. Der Ring fühlte sich schwer an in seiner Hand, und er legte ihn vorsichtig zurück und schloss die Schublade. Dabei flatterte ein Blatt Papier zu Boden. Er hob es auf. Ein paar Zeilen, hingekritzelt – hastig, wie es schien – in blauer Tinte, die auf der Seite etwas geschmiert hatte. Die Handschrift war unordentlich, so dass er eine Weile brauchte, um sie zu entziffern. Da stand:
    wir hatten knöchelhohe stiefel,
    mit denen wir in seichten tümpeln waten konnten
    wie entschlossene forscher,
    unempfindlich gegenüber regenwasser, matsch oder froschlaich
    oder diesen müden, selten befolgten mahnungen,
    nicht mit absicht in die tümpel zu gehen.
    in diesem winter konnte ich die karte lesen,
    die das wasser aufzeichnete,
    und kannte die absicht in der langsamen, schleimigen bewegung einer schnecke,
    die an einer scheibe entlangglitt.
    dann kam die sonne und brachte
    das ende des winters mit,
    und bedeutung trocknete aus
    und war mit den letzten regenfällen verschwunden.
    Das Gedicht beunruhigte ihn irgendwie. Er wusste nicht, warum. Mit der Schrift nach unten legte er das Blatt wieder auf die Tischplatte. Als Nächstes schaute er die Bücher auf dem Schreibtisch durch. Links der Schreibmaschine lagen vier Vergelter -Bücher. Er nahm das oberste in die Hand, das erste in der Serie, Einsatz: Afrika . Die Bindung war gelockert, der Rücken an manchen Stellen gebrochen. Er blätterte es durch und sah, dass es mit Anmerkungen in einer
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher