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Osama (German Edition)

Osama (German Edition)

Titel: Osama (German Edition)
Autoren: Lavie Tidhar
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wieder nannte sie ihn, während ihre kleinen Fäuste ihm ein Tattoo quer über die Brust schlugen.
    Er streckte die Arme aus, die sie umfassten, sie ganz nah heranzogen, und sie ließ sich an ihn sinken, warm und wirklich in seinen Armen. Er vergrub sein Gesicht in ihrer Halsbeuge und spürte, wie das Blut sie durchfloss.
    »Warum Vientiane?«, sagte er dann und dachte an das Leben, das er geträumt hatte, und sie sagte: »Weißt du noch? Wir wollten immer dorthin, haben es aber nie getan … an einen so entlegenen und abgeschiedenen Ort, wo nie etwas passiert und es immer warm ist …«
    »Ich habe dir versprochen, dass dir nie wieder kalt sein würde«, sagte er, und sie zitterte in seinen Armen. »Mir ist immer kalt«, sagte sie. Er hielt sie umschlungen. Und wünschte, er könnte sie für immer so halten.
    »Du musst dich entscheiden«, sagte sie leise. Ihr Atem kitzelte ihn auf der Haut. »Du musst dich entscheiden, was du sein willst. Wenn man dir alles genommen hat: einen Namen, ein Gesicht, eine Liebe – dann könntest du alles sein. Du könntest dich sogar entscheiden, du selbst zu sein.«
    Er hielt sie an sich gedrückt, dort auf den Hügeln über der Stadt, während die Sonne langsam über den Himmel niedersank. Bald würde es dunkel sein, die letzten Spuren von Sonnenlicht verblassten in einer Fülle von Farben am Horizont.
    »Ich weiß«, sagte Joe.

EPILOG
    Regenpfützen
    In der Regenzeit verwandeln sich die unbefestigten Nebenstraßen von Vientiane in Schlamm, und in Blumentöpfen und ausgedienten Reifen bleibt das Wasser stehen. Die ganze Stadt scheint sich dann emporzurecken, grüne Sprösslinge erheben sich vom Boden, breiten Zweige und Blätter aus, so wie geöffnete Handflächen, die darauf warten, mit ihren Fingern einen Kelch für das Regenwasser zu bilden. Wenn es regnet, fühlt es sich an, als hätte jemand ein Meer über der Stadt ausgekippt, und der Regen fällt und fällt in einer nicht enden wollenden Kaskade. In den überfüllten Markthallen ist der Boden mit gebündelten Zeitungen gepflastert, und Füße, die unter den Markisen der Märkte hindurchgehen, machen schmatzende Geräusche. Frösche lugen hoffnungsfroh aus ihren tiefen Käfigen, und in den Betonbecken schwimmen die Fische mit neuem Ziel, so als spürten sie einen Ausweg. Entlang des Mekong säumen Sandsäcke das Ufer, hoch aufeinandergestapelt, ein notdürftiger Schutzwall gegen die Flut.
    Wenn es regnet, wird jedes Geräusch übertönt. Im Regen herrscht eine Stille, eine Art weißes Rauschen. Das kann sehr beruhigend sein. Bevor es regnet, frischt der Wind auf und zieht die Wolken mit sich, so wie eine ärgerliche Mutter ihre störrischen Kinder. Rasch verdunkelt sich der Himmel. Nachts ist der Blitz so hell wie Hoffnung. Wenn er in solchen Nächten in seiner Wohnung in der Sokpaluang wach lag, zählte er gerne die Sekunden zwischen Donner und Blitz, um so die Entfernung des Gewitters zu bestimmen.
    Die Morgen waren warm und hell, und auf seinem Weg die Straße hinunter konnte er in vielen Pfützen sein Gesicht gespiegelt sehen. Er machte es sich zur Gewohnheit, einen Regenmantel und einen breitkrempigen Hut zu tragen, den er irgendwo erstanden hatte, und er rauchte weniger. Für ihn sah sein Gesicht aus wie immer. Die Luft war frisch und sauber, regenschwanger.
    Morgens ging er die halbe Stunde von seiner Wohnung zum Morgenmarkt gerne zu Fuß, wobei er nach rechts auf die Kouvieng abbog, vorbei an den Mönchen beim frühmorgendlichen Almosensammeln und den Frauen, die ihnen zu essen gaben, vorbei an den Hunden, die ihn manchmal anbellten, an nackten Hühnchen, die sich langsam an einem Stock drehten, am Busbahnhof, am Gemüsemarkt und an der Ampel und hinein in das kleine Café an der Ecke.
    Dort saß er dann, trank den bitteren Bergkaffee und beobachtete durch die Fensterscheiben die Menschen, die in der Markthalle ein und aus gingen, Leben, die funkelten wie das Licht ferner Sterne, während es sich durch die Atmosphäre bewegt.
    Wenn er sich später erhoben hatte, ging er den kurzen Weg zu seinem Büro neben dem schwarzen Stupa, stieg die wenigen Stufen hinauf und setzte sich an seinen Schreibtisch. In einer Schublade war noch eine fünftel Flasche Whisky, doch den rührte er nur noch selten an. Kundschaft gab es keine, was ihm durchaus zupasskam. Er saß dann in seinem Büro und starrte in Erwartung des Regens zum Fenster hinaus. Manchmal, wenn es regnete, teilten sich nur für einen Moment die Wolken, und die Sonne
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