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Osama (German Edition)

Osama (German Edition)

Titel: Osama (German Edition)
Autoren: Lavie Tidhar
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»Ich schrieb eine Serie von Artikeln über den Opiumhandel, verstehen Sie …« – einen Teil seiner Freizeit in den Rauchsalons zu verbringen, in denen Herren –»Ausländer wie Einheimische« – mit solchen Gewohnheiten zusammenkamen.
    »Zum ersten Mal habe ich sie in der ersten Vollmondnacht gesehen«, sagte Mike Longshott. »An Orten wie diesem kommt dem Mond eine viel größere Bedeutung zu. In mondlosen Nächten ist es so dunkel, aber die Sterne sind wunderschön. Wunderschön und kalt … Draußen in der Wüste kann man so viele Sterne sehen. Doch dann geht allmählich der Mond auf, jede Nacht ein bisschen größer … Wissen Sie, wie viel Licht er gibt, wie viel man im Mondlicht sehen kann?«
    Joe nickte. Er wusste es. In mondlosen Nächten herrschte so etwas wie Verzweiflung, wenn die Sterne, diese unvorstellbar weit von der Erde entfernten fremden Wesen, auf die Erde herabschauten, jeder eine Art kalte, fremdartige Schönheit, die kein Licht abgab. Der Mond war anders, und wenn er kam, hob sich die Dunkelheit, das Sonnenlicht wurde von der Oberfläche des Mondes reflektiert und erleuchtete die dunkle Welt, der es eine weiche, silbrige Form gab. Wenn der Mond zunahm, ging er früh auf und erinnerte an den immer dicker werdenden Bauch einer schwangeren Frau, bis er am Ende voll war. Die Phase des Vollmonds dauerte zwei Tage. Dann nahm der Mond wieder ab, ging später auf, als wäre er ein missmutiger Teenager, und wurde wieder kleiner, bis er verschwand und die Dunkelheit zurückkehrte, und mit ihr die Sterne.
    »Erzählen Sie mir von ihr«, sagte er.
    Mike Longshott nickte. »Ich sah sie, als ich aus dem … dem Gebäude rauskam«, sagte er. »Ohne irgendetwas zu tun, stand sie auf der Straße. Sie hielt die Arme um sich geschlungen, während sie auf ihren Fußsohlen schaukelte. Sie sah sehr verloren aus, und verletzlich. Im Mondlicht habe ich sie recht deutlich gesehen. Als ich auf sie zuging, drehte sie sich um. Ihre Augen waren warm, daran erinnere ich mich. Ich weiß noch, wie ich dachte, dass sie nicht wie Sterne waren. Sie waren wie Sonnenlicht, das vom Mond reflektiert wird. Sie sagte: ›Weißt du, wo sie sind?‹
    Ich sagte: ›Wer?‹
    ›Ich kann sie nicht finden‹, sagte sie. Ich wusste nicht, ob sie mit mir oder mit sich selbst sprach. ›Sie waren da, aber jetzt sind sie es nicht. Oder vielleicht sind sie da, aber ich nicht.‹ Sie zitterte, obwohl es eine warme Nacht war, und sie schlang die Arme noch fester um sich. ›Weißt du, wo sie sind?‹
    So sanft ich konnte, sagte ich: ›Nein.‹
    Dann drehte sie sich ganz zu mir um. Ihre Arme fielen herunter. Sie sah mich lange Zeit an, mein Gesicht, so als suchte sie darin nach vertrauten Zügen, nach Falten oder Rundungen, die ich nicht besaß.
    Vielleicht aber doch. Denn nachdem diese lange Zeit verstrichen war, atmete sie tief ein, und etwas von der Unruhe schien aus ihr zu weichen, und sie sagte: ›Wirst du mir helfen?‹«
    Dann nahm er einen Schluck Wasser und saß, in die Luft starrend, eine Weile schweigend in seinem Sessel. Erst da bemerkte Joe, dass die Stimmen, die ihn eine Zeitlang begleitet hatten, von seiner Zelle aus bis auf den Hügel herauf, jetzt still waren, und das schon seit geraumer Zeit. Abwesend oder still, das wusste er nicht, glaubte aber nicht, dass sie verschwunden waren. So wie er warteten sie, einer Geschichte lauschend. Er fragte: »War sie …?«, und Longshott sagte: »Ja, das war sie.«

Abnehmend
    »Sie werden es vielleicht nicht glauben«, sagte Longshott, »aber ihre Geschichte habe ich nie erfahren. Oh, ich bekam flüchtige Einblicke, hin und wieder. Manchmal redete sie im Schlaf, rief Namen – vor allem einen. Mike war es nicht.« Er schüttelte den Kopf. »Ich hatte den Eindruck, dass sie einmal einen Sohn gehabt hatte«, sagte er. Dann schwieg er, den Blick auf seine Hände gerichtet, die locker in seinem Schoß lagen. Er sah zu Joe auf, ihre Blicke trafen sich, und die Falten um seine Augen traten deutlich hervor. »Sie … sie nahm mit dem Mond zu und ab«, sagte er. »Ich weiß nicht, ob es für andere genauso ist. Mir erschien es eine Zeitlang wie ein Zauber – tut es, was das angeht, noch immer. Ich sah sie nur, wenn der Mond am Himmel stand. Ich weiß, dass sie sich nach Tageslicht sehnte. Sie wollte die Sonne sehen. Es schmerzte sie, dass ihr das nicht möglich war. Einmal habe ich sie gefragt, wohin sie ging, wenn sie nicht … wenn sie nicht da war. Sie wusste es nicht oder wollte es mir
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