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Die Reise Nach Petuschki

Titel: Die Reise Nach Petuschki
Autoren: Wenedikt Jerofejew
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Moskau.
Auf dem Weg zum Kursker Bahnhof
    Alle sagen: der Kreml, der Kreml. Alle haben mir von ihm erzählt, aber selbst habe ich ihn kein einziges Mal gesehen. Wie viele Male schon (tausende Male) habe ich im Rausch oder danach mit brummendem Schädel Moskau durchquert, von Norden nach Süden, von Westen nach Osten, aufs Geratewohl, von einem Ende zum ändern, aber den Kreml habe ich kein einziges Mal gesehen. So auch gestern wieder, obwohl ich den ganzen Abend lang in der Gegend dort herumgekurvt bin, und nicht etwa, daß ich besonders betrunken gewesen wäre. Als ich auf dem Sawelowskij-Bahnhof ausstieg, habe ich mir für den Anfang ein Glas Subrowka genehmigt, da ich aus Erfahrung weiß, daß als morgendliches Dekokt noch nichts Besseres erfunden wurde.
    Also, ein Glas Subrowka. Und dann, auf der Kaljajewskajastraße, ein weiteres Glas, allerdings nicht mehr Subrowka, sondern Korianderschnaps. Ein Bekannter von mir behauptet, daß Korianderschnaps eine inhumane Wirkung auf den Menschen hat, das heißt, indem er die Glieder stärkt, schwächt er die Seele. Bei mir trat aus irgendeinem Grund genau das Gegenteil ein, das heißt, die Seele erstarkte im höchsten Grade, während die Glieder, schwach wurden. Aber ich gebe zu, daß auch das inhuman ist. Deshalb goß ich eben da, auf der Kaljajewskajastraße, zwei Krüge Shiguli-Bier nach und einen kräftigen Schluck Alb-de-dessert aus der Flasche.
    Ihr werdet natürlich fragen: »Und weiter, Wenitschka, was hast du noch getrunken?« Aber ich weiß ja selbst nicht, was ich des Weges so getrunken habe. Ich erinnere mich nur — und daran erinnere ich mich ganz deutlich —, daß ich auf der Tschechowstraße zwei Gläser Jägerschnaps getrunken habe. Aber ich konnte auf keinen Fall den Ring Sadowoje Kolzo überquert haben, ohne vorher noch etwas getrunken zu haben. Nein, das konnte ich nicht. Also muß ich noch irgendwas getrunken haben.
    Ja, und dann ging ich ins Zentrum, weil es bei mir immer so ist: wenn ich den Kreml suche, gerate ich unweigerlich zum Kursker Bahnhof. Eigentlich mußte ich ja auch zum Kursker Bahnhof und nicht ins Zentrum, aber ich ging trotzdem ins Zentrum, um wenigstens ein einziges Mal zum Kreml zu gelangen. Ob so oder so, denke ich, den Kreml kriege ich ohnehin nicht zu sehen, sondern gerate direkt zum Kursker Bahnhof.
    Ich könnte jetzt weinen, so ärgerlich ist es. Nicht deshalb natürlich, weil ich gestern zu guter Letzt doch nicht am Kursker Bahnhof herausgekommen bin (Quatsch, bin ich gestern nicht hingekommen, komme ich heute hin). Und natürlich schon gar nicht deshalb, weil ich morgens in irgendeinem mysteriösen Treppenhaus aufgewacht bin. (Wie sich herausstellte, habe ich mich gestern in diesem Treppenhaus auf eine Stufe gesetzt, die vierzigste von unten, mein Köfferchen ans Herz gedrückt und bin schließlich so eingeschlafen.) Nein, nicht deshalb ist es ärgerlich. Ärgerlich ist es deshalb: Ich habe eben nachgerechnet, daß ich von der Tschechowstraße bis zu diesem Treppenhaus für weitere sechs Rubel gesoffen habe, aber was und wo habe ich gesoffen? Und in welcher Reihenfolge? War es zu meinem Wohl oder Übel? Das weiß niemand, und jetzt wird es auch niemand mehr erfahren. Wissen wir doch bis heute nicht: hat der Zar Boris den Zarewitsch Dimitrij ermordet oder umgekehrt?
    Was war das für ein Treppenhaus? Ich habe immer noch keine Ahnung. Aber so muß es eben sein. Alles ist so. Alles auf der Welt muß langsam und verkehrt laufen, damit der Mensch nicht hochmütig werde, damit der Mensch traurig und verwirrt sei.
    Ich ging hinaus an die Luft, als es schon hell wurde. Jeder weiß, jeder, der einmal in besinnungslosem Zustand in ein fremdes Treppenhaus geriet und es im Morgengrauen verließ, jeder von denen weiß, welche Schwere im Herzen ich jene vierzig Stufen des fremden Treppenhauses hinabtrug und welche Schwere ich an die Luft hinausschleppte.
    Macht nichts, macht nichts, sagte ich mir, macht nichts. Hier die Apotheke, siehst du sie? Und dort der Hosenscheißer in der braunen Joppe, der auf dem Trottoir herumkratzt. Den siehst du auch. Na also, dann beruhige dich. Alles geht seinen normalen Gang. Wenn du nach links gehen willst, Wenitschka, dann geh nach links, ich zwinge dich zu nichts. Wenn du nach rechts gehen willst, dann geh nach rechts.
    Ich ging nach rechts, leise taumelnd vor Kälte und vor Kummer. Jawohl, vor Kälte und vor Kummer. Oh, diese morgendliche Last im Herzen. Oh, unheilvolle Illusion. Oh,
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