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Die Reise Nach Petuschki

Titel: Die Reise Nach Petuschki
Autoren: Wenedikt Jerofejew
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ist - das kann nur ein ziemlich mieser Typ sein. Morgens schlecht, abends gut - der typische Miesling. Aber umgekehrt, wenn der Mensch morgens dynamisch ist und voller Hoffnungen und abends lahm vor Erschöpfung - das ist garantiert eine Mißgeburt von Mensch, ein Stümper, nichts Halbes und nichts Ganzes. Widerwärtig ist mir dieser Mensch. Ich weiß nicht, wie ihr so einen findet, mir ist er jedenfalls widerwärtig.
    Natürlich gibt es auch solche, denen alles gleich lieb ist, ob Morgen, ob Abend. Sie freuen sich, wenn die Sonne aufgeht, und sie freuen sich, wenn die Sonne untergeht. Aber das müssen ja völlig verkommene Subjekte sein, es kotzt einen an, überhaupt davon zu reden. Und dann erst solche, die alles gleich mies finden, ob Morgen, ob Abend. Für die fehlen mir einfach die Worte. Dreckschleudern sind das, der vollendete Abschaum. Weil nämlich die Geschäfte bei uns bis um neun geöffnet haben, und das Jelissejewskij sogar bis um elf. Und wenn du kein Abschaum bist, dann wirst du dich gegen Abend irgendwie erheben, damit sich wenigstens ein winziger Abgrund in dir auftun kann ...
    So, was habe ich da?
    Ich nahm aus dem Köfferchen alles heraus, was ich hatte, und befühlte es. Angefangen vom belegten Brot bis zum hochkarätigen Rose für einen Rubel siebenunddreißig. Ich befühlte es und empfand plötzlich eine fürchterliche Qual, die mich erblassen ließ. Mein Gott, da siehst Du, was ich besitze. Aber brauche ich denn das? Sehnt sich mein Herz denn danach? Das also haben mir die Leute gegeben als Ersatz für jenes, wonach mein Herz sich sehnt! Hätten sie mir jenes gegeben, würde ich dann das noch brauchen? Sieh, Herr: der hochprozentige Rose für einen Rubel siebenunddreißig ...
    Und der Herr, von blauen Blitzen umzuckt, antwortete mir: »Wozu braucht denn die heilige Theresia ihre Stigmata? Die braucht sie doch schließlich auch nicht. Aber sie wünscht sie sich.«
    »Ganz genau, ganz genau«, antwortete ich begeistert. »So auch bei mir, ich wünsche es mir, aber brauchen tu ich es überhaupt nicht!«
    Na also, wenn du es dir wünschst, Wenitschka, dann trink, dachte ich leise, aber zögerte immer noch. Wird mir der Herr noch etwas sagen oder nicht?
    Der Herr schwieg.
    Nun gut. Ich nahm das Viertelchen und ging hinaus auf die Plattform. So. Mein Geist hat viereinhalb Stunden in Gefangenschaft gelitten, jetzt lasse ich ihn ein wenig lustwandeln. Ein Glas ist da, und ein belegtes Brot ist da, damit mir nicht schlecht wird. Und eine Seele ist da, die noch einen winzigen Spalt zur Umwelt geöffnet ist. Teile mit mir die Tafel, o Herr.

Hammer-und-Sichel — Karatscharowo
    Und ich trank unverzüglich.

Karatscharowo — Tschuchlinka
    Ihr seht selbst, wie lange ich nach dem Trinken Grimassen schneiden mußte, um den Brechreiz zu unterdrücken, wie lange ich fluchen und des Teufels Großmutter anrufen mußte. Waren es fünf Minuten, waren es sieben Minuten oder war es eine ganze Ewigkeit, während ich von Wand zu Wand torkelte, die Hand an der Gurgel, und Gott anflehte, mich zu verschonen.
    Bis nach Karatscharowo, von Hammer-und-Sichel bis nach Karatscharowo, hörte Gott mein Flehen nicht. Der Rossijskaja ballte sich mal irgendwo zwischen Leib und Speiseröhre, mal quoll er ungestüm nach oben und sank wieder. Es war wie der Vesuv von Pompeji und Herculaneum, wie die Böllerschüsse zum Ersten Mai in der Hauptstadt meines Landes. Und ich litt und betete.
    Aber erst in Karatscharowo erhörte und erlöste mich mein Gott. Alles legte und beruhigte sich. Und wenn sich bei mir einmal irgendwas beruhigt und gelegt hat, dann ist das unwiderruflich. Glaubt mir. Ich achte die Natur, es wäre nicht schön, ihr ihre Gaben zurückzugeben... Ja.
    Ich strich meine Haare glatt, so gut es ging, und kehrte ins Abteil zurück. Die Passagiere sahen mich teilnahmslos an, mit runden nichtssagenden Augen ...
    Mir gefällt das. Es gefällt mir, daß das Volk meines Landes so leere und vorstehende Augen hat. Es erfüllt mich mit dem Gefühl legitimen Stolzes. Man stelle sich vor, wie die Augen dort sind. Wo man alles kaufen und verkaufen kann ... tief in ihren Höhlen versteckte, verborgene, habgierige und verängstigte Augen ... Geldentwertung, Arbeitslosigkeit, Verelendung ... Mißtrauisch blickende Augen, erfüllt von immerwährender Sorge und Qual — so sehen die Augen aus in der Welt des Mammon ...
    Und im Vergleich mein Volk — was für Augen! Fortwährend nach außen gedreht, aber ohne jede Anspannung. Ohne jeden
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