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Die Reise Nach Petuschki

Titel: Die Reise Nach Petuschki
Autoren: Wenedikt Jerofejew
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Sinn, aber dafür — welche Potenz! (Welche Potenz des Geistes!) Diese Augen verkaufen nicht. Sie verkaufen nichts, und sie kaufen nichts. Was immer mit meinem Land passieren würde. In Tagen des Zweifels, in Tagen erdrückender Unsicherheit, in Zeiten der Prüfung und Heimsuchung - diese Augen zucken nicht mit der Wimper. Sie lassen den lieben Gott walten. Mir gefällt mein Volk. Ich bin glücklich, daß ich unter den Blicken dieser Augen geboren und zum Mann herangereift bin. Schlimm ist nur eins: Könnten sie nicht beobachtet haben, was ich eben draußen auf der Plattform aufgeführt habe . .. von einer Ecke in die andere purzelnd, wie der große Tragöde, Fjodor Schaljapin, mit der Hand an der Gurgel, als hätte mich etwas gewürgt?
    Und wenn schon, was soll's. Selbst wenn es einer gesehen hat - was soll's. Ich könnte zum Beispiel irgendwas geprobt haben. Ja ... In der Tat. Vielleicht das unsterbliche Drama »Othello, der Mohr von Venedig«. Für mich allein und alle Rollen gleichzeitig. Ich war mir zum Beispiel selber untreu geworden, meinen Grundsätzen; genauer, in mir war plötzlich der Verdacht aufgestiegen, daß ich mir selber und meinen Grundsätzen untreu geworden sein könnte,- ich flüsterte mir etwas ein über mich - o, Schreckliches flüsterte ich mir ein! und nun habe ich, obwohl um der bestandenen Gefahren willen in Nächstenliebe zu mir selbst entbrannt, den Entschluß gefaßt, mich zu erwürgen. Habe mich an der Gurgel gepackt und gewürgt. Warum denn nicht? Und überhaupt, ich könnte schließlich sonstwas gemacht haben da draußen!
    Dort rechts, am Fenster, die beiden. Der eine so ein ganz, ganz Stumpfsinniger mit Joppe. Und der andere so ein ganz, ganz Gescheiter im Covercoat. Bitte sehr, die schenken ein und trinken, ohne sich im geringsten zu genieren. Die rennen nicht auf die Plattform hinaus, verrenken sich nicht die Hände. Der Stumpfsinnige kippt einen, grunzt und sagt: »Ah! Die rinnt wie geölt, die Pisse!« Dann der Gescheite, kippt einen und sagt: »Trans-zen-den-tal!« Und mit so feierlicher Stimme! Der Stumpfsinnige schiebt sich ein Stück Wurst in den Mund und sagt: »Unsere Wurst heute — ein Gedicht! Eine Wurst vom Typ ›Selber essen macht fett‹.« Der Gescheite kaut und sagt: »Ja-a-a ... Trans-zen-den-tal...!«
    Es ist erstaunlich! Ich komme ins Abteil, sitze da und werde von Zweifeln geplagt, für wen sie mich wohl halten — für den Mohr oder nicht für den Mohr?, denken sie schlecht oder gut von mir? Und die — trinken drauflos, völlig unverblümt, als wären sie die Krone der Schöpfung. Trinken im Bewußtsein ihrer Erhabenheit über den Rest der Welt... »Eine Wurst vom Typ ›Selber essen macht fett‹.«... Wenn ich morgens einen Schluck riskiere, um den Kater zu verscheuchen, verstecke ich mich vor Gott und der Welt, weil das die intimste aller Intimitäten ist! ... Trinke ich vor der Arbeit — verstecke ich mich. Trinke ich während der Arbeit — verstecke ich mich ... und die!! »Trans-zen-den-tal!«
    Mein Feingefühl schadet mir nur, es hat mir meine ganze Jugend verpfuscht. Meine Kindheit und die Zeit meiner Pubertät. .. Oder vielmehr: Das liegt gar nicht am Feingefühl, sondern einfach daran, daß ich die Intimsphäre grenzenlos erweitert habe. Wie oft schon hat mir das Unglück gebracht...
    Da kann ich euch zum Beispiel folgendes erzählen. Ich weiß noch, wie ich so vor zehn Jahren nach Orechowo-Sujewo gezogen bin. Zu der Zeit, als ich da hinzog, wohnten in meinem Zimmer schon vier Leute, ich war der fünfte. Wir waren ein Herz und eine Seele, nie gab es Streit. Wenn einer Portwein trinken wollte, stand er auf und sagte: »Kinder, ich will Portwein trinken.« Und alle sagten: »Gut. Trinke Portwein. Wir trinken mit dir zusammen Portwein.« Wenn jemand nach Bier war, war den anderen auch nach Bier.
    Wunderbar. Aber plötzlich stellte ich fest, daß die vier mich irgendwie mieden, heimlich tuschelten, mir nachsahen, wenn ich wo hinging. Merkwürdig fand ich das und etwas beunruhigend. In ihren Gesichtern las ich Besorgnis und beinahe Furcht... Ich marterte mir das Hirn. Was war los? Was sollte das?
    Und dann kam der Abend, an dem ich begriff, was los war und was das sollte. An jenem Tag war ich überhaupt nicht vom Bett hochgekommen. Ich hatte Bier getrunken und war traurig geworden. Ich lag da, einfach so, und blies Trübsal.
    Da sehe ich, wie sich alle vier leise an mich heranschleichen. Zwei setzen sich auf die Stühle am Kopfende meines Bettes, zwei
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