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01 Das Haus in der Rothschildallee

01 Das Haus in der Rothschildallee

Titel: 01 Das Haus in der Rothschildallee
Autoren: Stefanie Zweig
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ES IST ERREICHT
    Frankfurt, 27. Januar 1900
    Strahlende Sonne am 27. Januar war seit zwölf Jahren eine Berliner Tradition. Am Geburtstag von Kaiser Wilhelm II. strahlten die Sonne und die Bürger der Reichshauptstadt um die Wette. Selbstbewusst flanierten sie auf ihren Prachtstraßen und ein jeder wusste, dass »Kaiserwetter« eine Berliner Spezialität war.
    Weit weniger kaisertreu zeigten sich die Januarwinde, die von den Bergen im Taunus nach Frankfurt wehten. In der ehemaligen Freien Reichsstadt waren die Leute zu bürgerstolz und skeptisch, um auf neumodische monarchistische Mythen zu setzen. Die Frankfurter empfanden den kaiserlichen Geburtstag als einen Tag, der sich nicht von den übrigen dreißig im Monat unterschied – übellaunig schimpften sie den Januar einen rücksichtslosen Wüstling. Mit eiserner Faust vergalt ihnen der garstige Geselle seinen schlechten Leumund; häufig übertraf er mit Wetterkatastrophen, die zu Tragödien führten, noch seinen fürchterlichen Ruf.
    Der 27. Januar 1900 war allerdings in der schönen Stadt am Main der strahlende Beweis, dass in der Meteorologie noch weniger Verlass auf Verallgemeinerungen ist als auf besser überschaubaren Gebieten. An diesem letzten Samstag im Januar war das Frankfurter Wetter, wie die Leute einander aufgeräumt versicherten, wenn sie am Flussufer spazieren gingen und die Kirchturmspitzen in der Wintersonne wie die vergoldeten Kuppeln in Märchenbüchern glitzerten, »zum Eier Legen«. Der volkstümliche Ausdruck entstammte der Sommersprache, eignete sich aber trefflich, um am einundvierzigsten Geburtstag Seiner Majestät Kaiser Wilhelms II. das Lebensgefühl der Menschen zwischen den Ebbelweinwirtschafen in Sachsenhausen und den Feldern auf dem Lohrberg zu beschreiben. Der Himmel über den Frankfurtern, die dafür bekannt waren, dass sie nur glaubten, was sie sahen, anfassen und schmecken konnten, war am 27. Januar 1900 so klar und blau wie seit Wochen nicht mehr.
    Solch rares Wetterglück erhellte die dunkelste Gesindestube. Die Sonne erreichte feuchtes Gemäuer in engen Gassen und strahlte mit Titanenkraft auf Herrenhäuser und die weiträumigen Plätze, von denen es immer mehr in der Stadt gab. Hell im Licht der Hoffnung leuchteten die Schwanzfedern der Wetterhähne. Die alten Stadttürme wirkten, als wären sie in der Nacht geputzt worden. Auf der Zeil und in der Kaiserstraße pfiffen vorwitzige Spatzen von allen Dächern, dass es bald Frühling werden würde. Frisch gestriegelt waren die Pferde vor den geputzten Kutschen.
    Es war ein buntes Völkchen, das am letzten Januarwochenende des noch taufrischen neuen Jahrhunderts in Frankfurt die Welt bejubelte, als wäre sie soeben erschaffen worden. Selbst Griesgrame lächelten, wenn sie den Hut lüfteten, um Bekannten einen Gruß zu entbieten. Alte Damen lockerten den Schal, hielten ihre Stirn verlangend in die Sonne und erinnerten sich an die Zeit, als die Frühlingsträume auch zu ihnen gekommen waren.
    Eine junge Blumenverkäuferin im karierten Rock und knapp sitzendem Mieder bot auf dem Platz vor dem Dom Frühlingsblumen aus dem Gewächshaus an. Ein junger Mann kaufte eine langstielige rote Rose. Die Verkäuferin deutete einen Knicks an, der Rosenkavalier errötete und ging eilig weiter. In der Auslage einer beliebten Konditorei zwischen Mainufer und Römerberg glitzerten auf einer hohen Torte kandierte, rote Kirschen und Blätter aus grasgrünem Marzipan. Auf einer niedrigen Mauer gegenüber dem Café saßen zwei Katzen. Sie putzten ihre Barthaare und schauten mit halb geschlossenen Augen den Flanierenden nach. Junge Hunde jagten ihren Schwanz; die alten lahmten im gleichen Tempo wie ihre betagten Herrchen. Heitere Klänge einer Drehorgel kamen aus einem Hinterhof und reisten zu den Baumwipfeln am Fluss.
    Dass der kaiserliche Jubeltag auf einen Samstag fiel, war auch für eingeschworene Republikaner ein Grund zur Freude. In der Regel war der Samstag ja ebenso ein Tag von Arbeit und Pflicht wie alle anderen. Selbst Hausfrauen mit Personal hatten so viele Sonntagsvorbereitungen, dass es Abend wurde, ehe sie die Zeit fanden, sich den ersten Seufzer des Tages zu gönnen. Am 27. Januar 1900 reichte allerdings ein zufälliger Blick aus dem Fenster, um aus einer fleißigen Hüterin von Heim und Herd eine Zeit verschwendende Träumerin zu machen.
    »Ich kann schon den Frühling riechen«, jubelte Betsy Sternberg, als sie morgens um neun in ihrer neuen Küche den ersten der beiden Sonntagskuchen
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