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Nixenblut

Nixenblut

Titel: Nixenblut
Autoren: H Dunmore
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Erstes Kapitel

    M an findet die Meerfrau von Zennor in der Zennor Church, wenn man weiß, wo man nachschauen muss. Sie ist aus altem, hartem, dunklem Holz geschnitzt. Da es in der Kirche dunkel ist, muss man sich bücken, um sie genau zu erkennen. Man kann mit seinem Finger an ihrem Fischschwanz entlangstreichen.
    Jemand hat sie vor langer Zeit mit dem Messer aufgeschlitzt. Mit einem scharfen, wütenden Messer. Ich habe die Stelle sehr vorsichtig berührt, um der Meerfrau nicht ein weiteres Mal wehzutun.
    »Warum haben sie das gemacht, Dad? Warum haben sie ihr wehgetan?«
    »Ich weiß es nicht, Sapphy. Menschen tun manchmal schreckliche Dinge, wenn sie böse sind.«
    Und dann erzählte mir Dad die Geschichte von der Meerfrau. Ich war noch klein, aber ich kann mich an jedes Wort erinnern.
    »Die Meerfrau von Zennor verliebte sich in einen Menschen«, begann Dad. »Da sie aber ein Wesen des Meeres war, konnte sie nicht mit ihm an Land leben. Das hätte sie getötet. Doch sie konnte ihn nicht vergessen und ohne ihn leben konnte sie auch nicht. Nicht einmal schlafen konnte sie mehr, weil sie immerzu an ihn denken musste. Sie wollte nichts, als mit ihm zusammen sein.«

    »Wäre sie an Land wirklich gestorben?«, fragte ich.
    »Ja. Meerwesen können ohne Wasser nicht existieren. Wie auch immer, der Mann konnte sie auch nicht vergessen. Der Anblick der Meerfrau hatte sich tief in sein Bewusstsein eingegraben. Tag und Nacht sah er sie vor sich. Und der Meerfrau erging es genauso. Bei Flut schwamm sie in die Bucht und ließ sich dann den Fluss hinauftreiben, bis sie der Kirche so nah war, dass sie ihn im Chor singen hören konnte.«
    »Ich dachte, es sind die Meerfrauen, die singen«, sagte ich.
    »In dieser Geschichte ist es der Mann, der gesungen hat. Schließlich ließ sich die Meerfrau ein letztes Mal von der Strömung bis zur Kirche treiben, und der Mann konnte es nicht ertragen, sie wieder verschwinden zu sehen. Also ist er mit ihr fortgeschwommen und wurde nie wieder gesehen. So wurde auch er zu einem Meerwesen.«
    »Wie war sein Name, Dad?«
    »Mathew Trewhella«, antwortete er, indem er mich ansah.
    »Aber Dad, das ist doch dein Name! Wie kommt es, dass er denselben Namen hat wie du?«
    »Reiner Zufall, Sapphy. Das alles ist vor hunderten von Jahren geschehen. Du weißt doch, dass es in dieser Gegend immer wieder dieselben Namen gibt.«
    »Und wie hieß die Meerfrau?«
    »Sie hieß Morveren. Die Leute sagten, sie sei die Tochter des Meerkönigs, aber ich glaube nicht, dass das wahr ist.«
    »Warum nicht?«
    »Weil das Meer keine Könige hat.«
    Dad schien sich seiner Sache so sicher zu sein, dass ich
ihn nicht fragte, woher er das wusste. Als kleines Kind denkt man, dass die Eltern alles wissen. Also wunderte ich mich auch nicht, dass Dad so viel über das Meer wusste.
    Ich streichelte die hölzerne Meerfrau erneut und stellte mir vor, wie sie ausgesehen haben mochte, als sie sich mit ihrem wunderschönen, glänzenden Fischschwanz in der Strömung treiben ließ. Dann schoss mir ein anderer Gedanke durch den Kopf.
    »Aber Dad, was ist mit den Leuten, die der Mann zurückgelassen hat? Was ist mit seiner Familie?«
    »Er hat sie nie wiedergesehen«, sagte Dad.
    »Nicht einmal seine Eltern?«
    »Nein, nicht einmal sie. Er gehörte jetzt dem Meer an.«
    Ich versuchte, mir vorzustellen, wie es wäre, Mum und Dad niemals wiederzusehen. Schon bei dem Gedanken fing mein Herz panisch zu rasen an. Ich konnte ohne sie nicht leben, das wusste ich ganz genau.
    Ich blickte zu Dad hoch. Er schien mit seinen Gedanken weit fort zu sein und machte ein besorgtes Gesicht. Das gefiel mir nicht. Ich wollte ihn wieder zu mir zurückholen.
    »Fang mich doch!«, rief ich und rannte das Seitenschiff entlang bis zur Kirchentür. Obwohl die Tür schwer war und ein massives Schloss hatte, gelang es mir, sie aufzuziehen.
    »Du kriegst mich nicht!«, rief ich über die Schulter, als ich aus dem Portal stürzte und die steinernen Stufen hinunterlief, bis ich den sonnigen Weg erreichte. Ich hörte die Kirchentür ins Schloss fallen, dann sah ich Dad die Stufen hinabspringen.
    »Pass auf, Sapphy, jetzt hole ich dich!«
    Das ist schon lange her. Dad hat die Meerfrau nie wieder erwähnt und ich auch nicht. Aber die Geschichte steckte
tief in mir drin, wie ein unterirdischer Felsen, der den Rumpf eines Schiffes bei schlechtem Wetter plötzlich aufreißen kann. Ich wünschte, ich hätte die Meerfrau von Zennor nie gesehen. Sie war wunderschön, doch sie
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