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Nixenblut

Nixenblut

Titel: Nixenblut
Autoren: H Dunmore
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aus kann man bereits den Strand sehen.

    Unseren Strand, der aus feinem weißen Sand besteht. Den besten Strand auf der ganzen Welt.
    Ein letzter Sprung, dann bist du da. Aber der Strand existiert nur bei Ebbe. Bei Flut ist er nicht mehr zu sehen. Dann füllt sich die gesamte Bucht mit Meerwasser.
    Doch wenn der Strand zugänglich ist, kann man schwimmen, über Steine klettern und von ihnen aus ins Wasser springen, sonnenbaden, ein Picknick machen, Treibholz zu einem Lagerfeuer aufschichten und darauf kochen, die kleinen Wassertümpel erforschen, die sich überall zwischen den Steinen bilden, die Möwen betrachten, die schreiend über ihren Nestern kreisen… Im Sommer gehen Conor und ich fast jeden Tag dorthin, wenn die Gezeiten es zulassen.
    Manchmal erkunden wir auch die Höhlen, die im Rücken der Bucht liegen. Sie sind finster und glitschig und erzeugen ein Echo, wenn man ruft: Hallo … lo … lo … Hörst du mich … du mich … du mich.
    Die klamme Luft ist vom Geräusch tropfenden Wassers erfüllt. Unmöglich zu sagen, wo es herkommt. Man kann sich durch enge Durchgänge schlängeln, doch sollte man sich nicht zu weit vorwagen, sonst bleibt man stecken und wird von der Flut ertränkt. Was für eine Vorstellung: zwischen den glitschigen Steinen eingeklemmt zu sein, während das kalte Wasser sich zuerst um deine Zehen, dann um deine Beine schließt – und du weißt die ganze Zeit, was passieren wird, wie sehr du auch dagegen ankämpfst.
    »Seid auf der Hut in diesen Höhlen«, sagt Dad immer. »Und vergesst die Zeit nicht. Die Flut kommt sehr rasch, und ehe man sich’s versieht, ist einem der Rückweg abgeschnitten. «

    Man muss also die Gezeiten beobachten. Wenn das Wasser einen schwarzen Stein erreicht, den wir »Zeitstein« nennen, dann ist es Zeit, zurück durch den Sand zu laufen, über die Steine zu klettern, sich durch die Felsblöcke hindurchzuquetschen und so schnell wie möglich die Klippe zu erklimmen. Glaube ja nicht, du könntest dich schwimmend in Sicherheit bringen. Wer versucht, um die Landspitze herumzuschwimmen, der wird unweigerlich von der Strömung erfasst und fortgetragen.
    Dads Boot liegt auf der anderen Seite im tiefen Wasser. Damit das Boot nicht bei schlechtem Wetter von der Brandung gegen die Klippen geschleudert werden kann, besitzt er eine Winde, um die Peggy Gordon über die Gezeitenlinie nach oben zu hieven. Dad ist ständig mit der Peggy Gordon auf See, fischt, überprüft die Krabbenkörbe und macht Fotos. Die Fotos bearbeitet er anschließend am Computer und beschriftet sie, bevor er sie rahmt und an die Touristen verkauft.
    Es gibt also keinen Grund, sich Sorgen zu machen, wenn er sagt, dass er zur Bucht hinuntergeht. Dad würde niemals in den Klippen verunglücken. Außerdem wird es bald hell. Früher habe ich mir Sorgen gemacht, wenn er mit dem Boot unterwegs war und das Wetter umschlug, doch er ist immer wohlbehalten nach Hause gekommen. Er kennt jeden Winkel der gesamten Küste.
    Ich kenne jede Wasserlache und jede Kreatur, die darin lebt, sagt er, und es hört sich überzeugend an, weil es wahr ist.
    Doch heute ist Mum besorgt.
    »Geh nicht, Mathew!«, sagt sie. »Es ist viel zu spät. Lass uns zu Bett gehen.«

    »Warum kommst du nicht mit?«, entgegnet er. Man spürt, dass er es ernst meint. »Warum kannst du diese Kinder nicht einmal allein lassen und mit mir kommen?«
    Er sagt »diese Kinder«, als spräche er über Fremde, nicht über mich und Conor. Als wäre ich gar nicht im Zimmer. Ich hasse das. Mir wird kalt vor Angst.
    »Ich kann doch Sapphire nicht mitten in der Nacht allein lassen«, sagt Mum.
    »Was soll denn schon passieren? Es macht dir doch nichts aus, Sapphy, wenn Mum und ich noch einen Spaziergang zur Bucht machen, oder? Conor ist oben in seinem Zimmer.«
    »Nein«, sage ich mit einer Stimme, die eigentlich »doch« meint. Mum müsste doch verstehen, dass ich »doch« meine …
    »Dafür ist sie noch zu jung«, erklärt Mum. »Mach dir keine Sorgen, Sapphy, ich lasse dich nicht allein.«
    Dad schießt die Zornesröte ins Gesicht. »Werden wir denn nie wieder ein eigenes Leben haben?«, fragt er gereizt. »Sie sind doch keine Babys mehr. Komm mit ans Meer, Jennie.«
    Doch Mum schüttelt den Kopf. Ich fühle mich schuldig und habe Angst. Ich hasse es, wenn Dad sauer ist, und diesmal ist es meine Schuld.
    »Dann gehe ich eben allein«, sagt er. Sein Gesicht ist hart. Er dreht sich um. »Warte nicht auf mich, Jennie.«
    »Mathew!«, ruft Mum, aber die
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