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Nixenblut

Nixenblut

Titel: Nixenblut
Autoren: H Dunmore
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Jennie.«
    »Komm, Saph«, sagt Conor. Als er aufsteht, sieht sein Gesicht plötzlich viel älter aus als zuvor. Wir betreten die Küche, und Mum starrt uns so entgeistert an, als wüsste sie nicht, wer wir sind. Sie sieht furchtbar aus.
    Mary wendet sich an Conor: »Ich habe gerade zu deiner
Mutter gesagt, dass wir die Küstenwache verständigen sollten. Es passt nicht zu deinem Vater, einfach zu verschwinden und deine Mutter im Unklaren zurückzulassen. Es ist jetzt hell genug, um mit der Suche zu beginnen. Selbst wenn er auf See beim Fischen ist, schadet es nicht, wenn die Küstenwache bei ihm vorbeischaut. Ich hol dir jetzt das Telefon, Jennie.«
     
    Mit Mums Anruf fängt alles an. Und wenn es erst mal anfängt, kannst du es nicht mehr aufhalten. Ich klammere mich immer noch an die Hoffnung, dass Polizei und Küstenwache sich beschweren werden, wir hätten sie wegen einer so nichtigen Angelegenheit belästigt. Immer mit der Ruhe, eurem Dad geht es gut. Wartet noch ein bisschen, dann wird er bestimmt auftauchen. Aber das sagen sie nicht.
    Der Jeep der Küstenwache holpert den Weg hinunter. Leute sprechen in Funkgeräte und Handys. Polizeibeamte drängen in unsere Küche und füllen sie mit ihren Uniformen.
    Nachbarn klopfen an die Tür. Mary geht hinaus, um mit ihnen zu reden – leise, damit wir nicht hören, wie sie immer wieder dieselbe Geschichte erzählt. Teebecher stehen auf dem Küchentisch. Einige sind voll, andere halb leer. Die Leute bringen Sandwiches und Kuchen und Kekse vorbei, bis wir mehr haben, als wir je essen könnten. Ich kriege keinen Bissen hinunter. Ich probiere einen Keks, aber er bleibt mir im Hals stecken. Mum hält mir ein Glas Wasser an den Mund, während ich huste und pruste. Die Angst und der Schlafmangel stehen ihr ins Gesicht geschrieben.
    Das alte Leben von mir und Dad und Mum und Conor ist abgelaufen wie eine Uhr, die plötzlich stehen bleibt. Ein
neues Leben hat begonnen, und ich höre es flüstern: Dein Dad ist weg , dein Dad ist weg , dein Dad ist weg .
    Draußen herrscht strahlender Sonnenschein, es wird warm werden. Conor steht unten bei Mum, aber ich gehe hinauf in mein Schlafzimmer, ziehe die Bettdecke eng um mich zusammen, schließe die Augen und versuche, Dad in Gedanken zu uns zurückzubringen. Ich kümmere mich nicht um die Geräusche, die aus der Küche kommen, sondern versuche, mich zu konzentrieren. Wenn du jemand so sehr liebst, dann muss er dich doch hören, wenn du ihn rufst.
    »Dad«, sage ich. »Dad, bitte , komm nach Hause. Kannst du mich hören? Ich bin’s, Sapphy. Ich lasse nicht zu, dass Mum böse auf dich ist, wenn du gleich nach Hause kommst.«
    Niemand. Nichts. Alles, was ich höre, ist das Rauschen des Blutes in meinem Kopf, weil die Decke um meine Ohren geschlungen ist.
    » Bitte , Dad …«
    Ich setze mich fröstelnd auf und lausche angestrengt auf die beiden Dinge, die ich lieber als alles andere auf der Welt hören möchte – auf Dads schlagendes Herz, wie ich es hörte, als er mich in der Mittsommernacht nach Hause trug, und auf seine Stimme, die sich in die Sommerluft erhebt, wenn er O Peggy Gordon singt:
    O Peggy Gordon, du bist mein Liebling, komm und setz dich auf meinen Schoß…
    »Ich heiße nicht Peggy«, habe ich immer gesagt, als ich noch klein war. »Setz dich trotzdem auf meinen Schoß«, entgegnete Dad. Dann fasste er unter meine Ellenbogen und hob
mich mit großem Schwung auf seinen Schoß. Ich lachte, und er lachte auch und schwang mich sogleich noch höher in die Luft, immer höher und höher, bis Mum sagte, er solle aufhören, ehe mir total schwindelig sei. Aber sie war ihm nicht böse, sondern lachte ebenfalls.
    Wenn man die Zeit doch nur zurückstellen könnte. Oder wenn sie plötzlich in die entgegengesetzte Richtung liefe, wie das Seewasser bei Ebbe. Zurück zu dem Moment, als das Mittsommerfeuer noch nicht entzündet und alles noch in bester Ordnung war. Dann könnten wir alle noch mal von vorne anfangen …

    Die Küstenwache sucht die gesamte Küste ab, doch ohne Erfolg. Sie suchen den ganzen Tag und den nächsten und übernächsten Tag auch. Der Seenotrettungsdienst schickt einen Hubschrauber, der im Tiefflug über Buchten und Klippen hinwegknattert.
    Nach zwei Tagen erklärt mir Conor, dass sie die Suche nun langsam zurückfahren. Er erklärt mir, was das bedeutet. Es bedeutet, dass Dad entweder im Wasser oder in den Klippen ist und dass sie nicht mehr damit rechnen, ihn noch lebend zu finden. Zu viel Zeit ist inzwischen
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