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Nixenblut

Nixenblut

Titel: Nixenblut
Autoren: H Dunmore
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spielt keine Rolle, dass unsere Familie aus zwei Hälften besteht, solange wir zusammenhalten.
    Als wir das steilste Stück des Weges erreichen, muss Dad mich absetzen. In westlicher Richtung ist immer noch ein schwaches Licht zu erkennen, wie der Abglanz des Sonnenuntergangs oder der erste Schimmer des aufgehenden Mondes. Das dunkle Meer verliert sich in der Ferne. Ich bin froh, dass Dad hier stehen geblieben ist, weil ich es liebe, das Meer zu betrachten.
    Dad hat aufgehört zu singen. Er steht unbeweglich da und blickt schweigend über das Wasser. Er scheint nach irgendetwas Ausschau zu halten, vielleicht nach einem Boot. Aber heute sind keine Boote mehr unterwegs, nicht in der Mittsommernacht.
    Obwohl Dad direkt neben mir steht, scheint er mich völlig vergessen zu haben. Er ist weit, weit weg.
    »Dad«, sage ich schließlich. Ich bin unruhig. »Dad?« Doch er antwortet nicht. Ich bin müde und fröstele, meine Beine haben eine Gänsehaut. Wären wir doch nur alle vier schon zu Hause und könnten die Tür hinter uns schließen. Ich will ins Bett und schlafen.
    »Lass uns zu Mum und Conor aufschließen, Dad, die sind schon weit voraus. Da-ad!! «
    Doch Dad hebt seine Hand. »Pst!«, sagt er. »Hör mal!«
    Ich lausche. Ich höre den Schrei einer Eule. Ich höre das dumpfe Rauschen der See, als würde sie atmen. In einer stillen Nacht fällt es besonders auf, aber das Geräusch ist immer da. Würde die Welt verstummen und auch das Meer
stillstehen, ja, dann wäre absolute Stille. Als mir dieser Gedanke kommt, verstärkt sich mein mulmiges Gefühl. Mir gefällt das nicht. Ich habe Angst.
    »Hörst du?«, fragt Dad erneut. Die Art, wie er das sagt, treibt mir einen Schauer über den Rücken.
    »Was denn?«, frage ich scharf. »Was meinst du?«
    »Hörst du es nicht?«
    »Was?«
    Doch Dad antwortet immer noch nicht. Er starrt weiter über das Wasser, bis er sich plötzlich schüttelt, als müsse er zu sich kommen.
    »Lass uns gehen, Sapphy.«
    Es ist zu dunkel, um Dads Gesicht genau erkennen zu können, aber seine Stimme ist wieder normal. Er schwingt mich auf seinen Arm. »Zeit, dass du nach Hause kommst.«
    Als wir unser Haus erreichen, hat Mum Conor bereits ins Bett geschickt.
    »Leg dich auch hin, Sapphy«, sagt Dad. Er streckt sich und gähnt, doch seine Augen glänzen und sind weit geöffnet. Ich bemerke, dass er die Tür nur angelehnt hat, als wolle er wieder hinausgehen. Die Haustür führt bei uns direkt ins Wohnzimmer, hinter dem sich die Küche befindet. Mum ist in der Küche und klappert mit den Tellern.
    »Ich geh noch mal an den Strand!«, ruft Dad ihr zu. »Ich kann jetzt sowieso nicht schlafen.«
    Mum erscheint im Türrahmen und blinzelt müde.
    »Was? Um diese Zeit?«
    »Es ist eine wunderbare Nacht«, sagt er. »Der längste Tag und die kürzeste Nacht. Denk dran, Jennie, so eine Nacht wird es ein ganzes Jahr lang nicht wieder geben.«
    »In einer dieser Nächte wirst du dir noch mal das Genick
brechen, wenn du in den Felsen herumkletterst«, sagt Mum.
    Aber wir wissen alle, dass es nicht so weit kommen wird. Dad kennt den Weg zu gut.

    So gelangt man zu unserer Bucht: Der Weg führt direkt an unserem Haus vorbei. Folgt man ihm bis zu seinem Ende, stößt man auf einen Pfad, der von Adlerfarn, Brombeersträuchern und Fingerhut so überwuchert ist, dass man ihn von allein nicht finden würde. Erst wenn man die Zweige zur Seite drückt, erkennt man ihn. Als ich klein war, habe ich mir vorgestellt, er wäre magisch. Man geht den Pfad hinunter und gelangt plötzlich zu einem grasbewachsenen Felsvorsprung über der Bucht. Doch wer denkt, er wäre schon fast am Ziel, der irrt sich gewaltig. Man muss nämlich über den Rand des Felsvorsprungs klettern und weiter unten ein Wirrwarr von großen Steinen überwinden.
    Die Steine sind mit glitschigen Algen überzogen. Manchmal muss man ein Bein gewaltig strecken, um sicheren Halt zu finden, mitunter auch springen. Natürlich stürzt man auch ab und zu. Conor und ich sind so oft auf die Steine gefallen, dass unsere Beine voller Narben sind.
    Immer weiter geht es hinab, und am Ende muss man sich noch durch zwei gewaltige Felsblöcke hindurchquetschen, die den Zugang zur Bucht versperren. Im Schatten der Blöcke ist es klamm, es riecht nach Fisch und Seetang. Conor und ich finden dort langbeinige Spinnenkrabben, Stücke von Tauen, Fischskelette und Treibholz.
    Hat man die Felsblöcke hinter sich gelassen, muss man noch über weitere Steine klettern. Doch von hier
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