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Nixenblut

Nixenblut

Titel: Nixenblut
Autoren: H Dunmore
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steht vorgebeugt da, als würde sie nach etwas Ausschau halten.
    »Irgendwas stimmt da nicht«, sagt Conor, lässt sein Fahrrad am Wegesrand fallen und beginnt zu laufen. Als ich auch meines hinlege, verhaken sich die Lenker. Ich kriege sie nicht auseinander und lehne beide Fahrräder gegen die Mauer. Eigentlich will ich auch zu Mum rennen, aber irgendwas hält mich davon ab. Ich zögere. Ich habe das beklemmende Gefühl, dass Conor Recht hat. Irgendwas stimmt da nicht. Irgendwas ist passiert.
     
    So begann eine lange Nacht. Die längste Nacht meines Lebens, obwohl die Nächte im Sommer eigentlich kurz sind.
    Niemand von uns geht ins Bett. Zunächst sitzen wir alle am Küchentisch und warten. Immer wieder nicke ich ein. Dann sinkt mein Kopf auf die Brust, und ich zucke zusammen, kurz bevor ich vom Stuhl kippe. Mum nimmt davon keine Notiz und sie schickt mich auch nicht ins Bett. Sie starrt unentwegt die Tür an, als würde Dad jeden Moment hereinkommen.
    »Dad fährt doch oft noch spät mit dem Boot raus«, wiederholt Conor störrisch, während die Stunden vergehen. Zehn Uhr, elf Uhr …
    »Aber nicht so spät«, sagt Mum. Ihre Lippen bewegen sich kaum. Ich weiß, dass sie Recht hat, und Conor weiß es auch. Irgendwas ist passiert. Wenn er fischen geht, dann meistens mit Badge oder Pete zusammen. Manchmal ist er auch allein unterwegs, aber er würde nie, wirklich nie so einfach verschwinden, ohne uns zu sagen, wo er hinwill. Oft
helfen wir ihm, das Boot zu beladen, und sehen ihm zu, wie er bei Flut hinausfährt.
    Aber diesmal hat Dad nichts gesagt. Er hat den ganzen Nachmittag im Garten gearbeitet. Mum hat ihn singen gehört.
    Sie hat sich für eine halbe Stunde hingelegt, weil ihr der Schlaf der letzten Nacht fehlte. Als sie aufwachte, stand die Sonne schon tief. Sie hat nach Dad gerufen, doch es kam keine Antwort. Sie ging ein Stück den Weg hinunter und rief erneut, doch wieder blieb alles ruhig. Unsere Nachbarin, Mary Thomas, kam aus ihrem Haus.
    »Ist was nicht in Ordnung, Jennie?«, fragte sie. »Ich habe gehört, wie du nach Mathew gerufen hast.«
    »Doch, doch, alles in Ordnung«, antwortete Mum. »Ich weiß nur gerade nicht, wo er ist. Vielleicht repariert er irgendwas am Boot. Ich geh mal zur Anlegestelle und schau nach.«
    Eine merkwürdige Vorstellung, dass Mum den ganzen Weg allein bis zur Bucht gegangen ist, so nah ans Meer! Es muss ihr Angst gemacht haben, aber sie tat es. Als sie über einen Stein klettern wollte, ist sie ausgerutscht und hat sich die Hand an einer Muschelschale aufgeschnitten. Ihre Jeans ist voller Blutflecken. So schnell, wie sie nur wagte, ist sie weitergehastet, bis sie sehen konnte, dass an der Anlegestelle kein Boot festgemacht war. Es herrschte Flut, doch der Gezeitenwechsel stand unmittelbar bevor. Mum hat immer wieder seinen Namen gerufen, obwohl ihr doch klar sein musste, dass Dad nicht da war. Sie konnte einfach nicht aufhören zu rufen.
    »Ich hatte das Gefühl, dass Mathew in der Nähe war. Er wollte zu mir kommen, aber er konnte es nicht.«

    All das hat uns Mum nicht erzählt, als wir um den Küchentisch saßen. Erst viel später in dieser Nacht, nachdem sie uns ins Bett geschickt hat, sitzen wir auf den Treppenstufen und lauschen ihrem Gespräch mit Mary Thomas. Ihr erzählt sie alles, was sie uns nicht erzählt hat – von ihrem ewigen Rufen nach Dad, weil sie dachte, er sei ganz in der Nähe, und dass er nicht zu ihr kommen konnte, obwohl er es wollte.
    Als der Morgen dämmert, ist Dad immer noch nicht zurück. Mary Thomas sitzt bei Mum in der Küche. Conor und ich hocken immer noch auf den Stufen, warten und lauschen. Irgendwann muss ich eingeschlafen sein, denn als ich aufwache, hat Conor seinen Arm um mich gelegt. Ich bin völlig steif, mein Kopf schmerzt und das Gefühl einer schrecklichen Angst ist stärker als je zuvor.
    Mum hat gesagt, dass Dad am Morgen zurück sein würde. Aber jetzt ist es Morgen und er ist nicht da. Ein Murmeln dringt durch die geschlossene Küchentür, und wir müssen uns sehr anstrengen, um Mums Worte zu verstehen.
    »Ich weiß nicht, was ich tun soll, Mary!«, sagt sie. Wir können die Panik in ihrer Stimme hören. Ich warte darauf, dass Mary ihr sagt, sie solle sich beruhigen, weil Dad doch schon tausendmal mit dem Boot rausgefahren ist, ohne dass je etwas passiert wäre. Aber das tut Mary nicht. Während das Morgenlicht langsam in unser Haus dringt, sagt sie: »Ich denke, wir sollten jetzt die Küstenwache verständigen,
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