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Nietzsche und Wagner: Geschichte einer Hassliebe

Nietzsche und Wagner: Geschichte einer Hassliebe

Titel: Nietzsche und Wagner: Geschichte einer Hassliebe
Autoren: Kerstin Decker
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eine Ratte Flöte« – und übernimmt alle »Meistersinger«-Stimmen, den Schuster Sachs ebenso wie das Evchen im höchsten Sopran, den Ritter Stolzing und den Juden Beckmesser, unterbrochen stets von unabdingbaren Erläuterungen zum Werk, ohne jedoch die Musik auszusetzen.
    Sein Stiefvater, der Leipziger Maler und Schauspieler Ludwig Geyer, konnte das auch schon, obgleich meist ohne Gesang und Klavierspiel: Ein Schauspieler pro Stück ist genug, musste jeder einsehen, der ihm zusah. Aber meist spielte Geyer den Liebhaber und den Verräter, den König und den Mörder doch nacheinander, schon weil die anderen Schauspieler sich sonst gelangweilt hätten. Damit er selbst sich nicht langweilte, wählte er beim nächsten Mal die nächste Rolle. Für die Spesen von Geyers Aufenthalt auf Erden bürgte indes sein Freund, Wagners Vater, zumindest bis zu seinem Tod. Oder war der malende und schau spielende Freund irgendwann gar kein Freund mehr und Richards Vater gar nicht sein Vater, sondern in Wirklichkeit eine Art Hans von Bülow? Und Richard Wagner gar nicht Friedrich Wagners Kind, sondern das des malenden Universalschauspielers Geyer? Der Mann am Klavier, in seiner Heimatstadt das eigene Werk mit sämtlichen an sich verteilten Rollen vortragend, hat es nie mit Sicherheit erfahren. Die Beunruhigung darüber wird ihn nicht verlassen.
    Geringere Geister wären jetzt bestürzt: Der Urheber so vieler Zauberreiche – nur ein Spaßmacher, ein Gaukler? Aber der Student wahrt die Fassung. Wahrscheinlich versucht er, nicht zu lachen.
    Vielleicht führt jeder lebenslang dasselbe Stück auf, auf die lebenslang gleiche Weise. Richard Wagner tat es zum ersten Mal an seinem zehnten Geburtstag, zumindest in der Erinnerung seiner Schwester Cäcilie. Er hätte gewarnt sein können: vor sich selbst.
    Das Einzige, was bei der denkwürdigen Premiere vor über vierzig Jahren nicht von ihm stammte, war das Puppentheater, die Kinder hatten es von Stiefvater Geyer geerbt. Die inzwischen nicht nur vater-, sondern auch stiefvaterlose Restfamilie weilte im Loschwitzer Grund, der verfügte über einen Hügel, und da Ritter immer oben, niemals unten wohnen, kam kein anderer Auf führungsort des selbstverfassten Ritterdramas in Frage. Schwester Cäcilie musste schon vormittags die selbstgemachten Kulissen den Berg hinauftragen. Um vier Uhr, noch unter glühender Sonne, begann die Vorstellung, in der Ferne war ein erstes Donnergrollen vernehmbar. Schöner als Martin Gregor-Dellin kann man Richard Wagners ersten Auftritt als leibhaftiges Gesamtkunstwerk nicht erzählen: »Richard Wagner dirigierte seine selbst bekleideten Figuren und sprach für alle, und mit dem näherkommenden Donner wuchs die Leidenschaftlichkeit seiner Stimme … Plötzlich erhob sich ein Sturm und riß das leichte Theater in die Höhe, der Vorhang ging in Fetzen, die Figuren flogen nach allen Seiten davon, der Himmel öffnete sich zu einem wolkenbruchartigen Regen, und die Zuschauer flüchteten die Treppe hinab, Richard aber spielte mit tränenerstickter Stimme und fliegenden Haaren weiter, die Reste seines zerstörten Theaters mit den Armen umschlingend.« 44 –
    In Paris hatte Wagner einst den Fehler gemacht, dem Impresario Carvalho, der seinen »Tannhäuser« aufführen sollte, das Werk wie jetzt im Salon Brockhaus vorzutragen, mitsamt den Erläuterungen, diese jedoch in seinem bemitleidenswerten Französisch. Der Impresario gewann den starken Eindruck, dass dieses Werk wohl nicht auf eine Bühne, sein Schöpfer aber unbedingt in gute Pflege gehöre. – Nietzsche hört und sieht anders, auch wenn der Vortrag wohl kaum dazu angetan ist, die Symptome hervorzurufen, die er beim letzten Anhören des »Meistersinger«- und des »Tristan«-Vorspiels an sich wahrgenommen hatte.
    Dafür überkommt ihn die Gewissheit, dass man schon ein Gott sein muss, um auf eine so souveräne Art Mensch zu werden. Dieser Mann hat es nicht nötig, in der Begegnung mit anderen zu seiner eigenen Statue zu werden. Er ist, das spürt Nietzsche sofort, vollkommen frei.
    Ja, er ist sogar frei genug, nun über die Aufführungen des »Tristan« zu sprechen, unter besonderer Berücksichtigung Sachsens und seiner Gemütsart, und zwar im Idiom seiner Heimatstadt. Wie das schmerzt! Ausgerechnet »Tristan«. Dessen Wirkung auf die menschliche Konstitution wird Nietzsche bald in eine Frage kleiden, gerichtet an alle, die nicht ganz tauben Ohres sind: Ob sich denn ein Mensch denken lasse , der den dritten Act von
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