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Nietzsche und Wagner: Geschichte einer Hassliebe

Nietzsche und Wagner: Geschichte einer Hassliebe

Titel: Nietzsche und Wagner: Geschichte einer Hassliebe
Autoren: Kerstin Decker
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überhaupt etwas.
    Ohne Erlösungsbedürftigkeit keine Musik. Das wusste auch Friedrich Nietzsche, fähig zu äußersten Bekenntnissen in aller Beiläufigkeit: Ich weiss keinen Unterschied zwischen Tränen und Musik zu machen. 3
    Die tiefste Differenz zwischen diesen beiden genialen Atheisten muss demnach eine erlösungstheoretische sein.
    Nietzsche wollte, wie zu zeigen ist, Wagner in genau zwei Disziplinen überholen, in denen er bis dato ungeschlagen war: als Erlöser und als Erlösungsbedürftiger. Statt Menschenrechte dachte Friedrich Nietzsche Menschenpflichten und entdeckte bei dieser Gelegenheit eine, von der noch niemand wusste: die Pflicht zur Selbsterlösung. Erlösung durch Fremde, durch Frauen gar, ist Unfug.
    Das kann nicht sein!, sagt Wagners Musik.
    Die folgenden dreihundert Seiten widmen sich der Frage: Wer hat recht? Und warum beide?
    Nichts von dem, was hier folgt, ist fiktiv.
    Eventuell romanhafte Anmutungen sind allein der Darstellungs weise geschuldet.
    Zugrunde liegen Selbstzeugnisse und Briefe Friedrich Nietzsches und Richard Wagners, die maßgebliche biographische Literatur, vor allem aber: beider Werk. Alle Zitate Nietzsches sind kursiv gedruckt.
    Leben heißt, beschriftet zu werden. Mit einer Tinte, die unter die Haut geht. Im Fall Richard Wagners sind dieserart Eintragungen ungewöhnlich zahlreich, und der existentielle Kalligraph ist schon 55 Jahre bei der Arbeit, als der Erneuerer der Musik und der conditio humana dem Erneuerer der Philosophie und der conditio humana begegnet. Unmöglich also, den Älteren als leeres Blatt erscheinen zu lassen. Unmöglich aber auch, die fehlenden Seiten einfach nachzuliefern, denn dann ginge es in diesem Buch mehr rück- als vorwärts.
    Die Autorin gesteht, an diesem Form-Konflikt beinahe verzweifelt zu sein. Die einzig mögliche Lösung schien eine doppelte. So gibt es im Folgenden Kapitel, die etwa der Frage nachgehen: Wie und bei welcher Gelegenheit wurde Richard Wagner Richard Wagner? Man wird einsehen, dass dies eine dem Thema nicht ganz äußerliche Erkundigung ist, gleichwohl wird der Leser jedes Mal rechtzeitig gewarnt. Weglassen ist möglich! Es soll nicht behauptet werden, dass es ohne Verluste möglich wäre, aber es ist ohne Irritation möglich!
    Wir wissen, wie es mit denen, die vor uns waren, weiter- und ausging. Sie aber wussten das nicht. Darum gilt es, etwas zu rekonstruieren, was nicht auf den ersten Blick Aufgabe des Biographen zu sein scheint: die Dunkelheit. Mit Blochs schönem Wort: das Dunkel des gelebten Augenblicks.

LEIPZIGER VORSPIEL

Der Kanonier Friedrich Nietzsche,
23 Jahre alt, drei Monate vor
seiner ersten Begegnung mit
Richard Wagner.
    Die Einladung
    Von dem Augenblick an, wo es einen Klavierauszug
des Tristan gab – mein Kompliment,
Herr von Bülow! –, war ich Wagnerianer.
    Friedrich Nietzsche, Ecce homo
    Am frühen Abend des 8. November 1868 steht ein durchnässter Schneidergeselle vor der Tür eines Leipziger Studenten, überm Arm die Lieferung seines Meisters. Ein rätselhafter Ausdruck von Dankbarkeit, ja von grenzenloser Erleichterung erscheint im Gesicht des Hereinbittenden.
    Er hatte schon den ganzen Nachmittag gewartet und einem Freund, der sich nicht davon abbringen ließ, ihm Wissenswertes über die Entwicklung des Gottesbegriffs bis Aristoteles mitzuteilen, nicht recht zuhören können. Was ging ihn jetzt – bei Aristoteles oder sonst wem – das Höchste oder der Höchste an? Für ihn war das im Augenblick sein Schneider, und der hielt es genau wie jener andere gewöhnlich: Er erschien nicht.
    Als es dunkel wurde, hatte der Student schließlich in höchster Ungeduld sein etwas zu großes, etwas zu leeres Zimmer in der Lessingstraße 22, zweiter Stock, verlassen, war durch Schnee, Regen und Wind gelaufen, um mit einer Miene, die weltuntergangskündender war als das Wetter, die Werkstatt des Schneiders zu betreten. Ich … fand seine Sclaven heftig mit meinem Anzuge beschäftigt. 4 Keine Stunde mehr, und er sei fertig, versicherte der Meister.
    Am Sonntag, hatte er gesagt, könne er liefern. Da wusste der studentische Auftraggeber der Festgarderobe noch nicht, wie dringend er sie genau an diesem Sonntag schon brauchen würde. Denn er ist eingeladen. Eingeladen, dem Mann zu begegnen, dem er alles auf Erden verdankt. Etwa die Tatsache, dass er seine Jugend überlebt hat. 5 Ja, dem Gastgeber in spe ist es zu verdanken, dass der zu Bekleidende eine Heimat hat. Denn nur in Noten kommt der Mensch wirklich nach
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