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Nietzsche und Wagner: Geschichte einer Hassliebe

Nietzsche und Wagner: Geschichte einer Hassliebe

Titel: Nietzsche und Wagner: Geschichte einer Hassliebe
Autoren: Kerstin Decker
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für die hintere Pforte. Der Student rief. Er winkte. Er schrie. Das ganze Haus geriet in Aufruhr. Nur der Bote hörte nichts.
    Dann endlich zählte nur noch eins: Er war da – der neue Frack, die Ballgarderobe, sicher durch Regen, Schnee und Wind getragen, endlich!
    *
    Richard Wagner bestärkt nicht zuletzt Friedrich Nietzsches Ahnung, dass es mehr auf dieser Welt geben muss als die Altphilologie. Für einen Beststudenten der Altphilologie ist das kein ganz selbstverständliches Bewusstsein, andererseits hat er soeben auch erkannt, wer der wahre Heilige der Philologie ist, und einen alten Schulfreund gefragt: Weißt Du, wie er heißt? Wagner, Wagner, Wagner! 9
    Friedrich Nietzsche darf sicher sein, dass niemand außer ihm darauf gekommen wäre, den Empfänger des Wagner, Wagner, Wagner!- Briefes ausdrücklich eingeschlossen und seinen Professor erst recht. Aber das beunruhigt ihn nicht. Er hält die meisten Philologen ohnehin für Idioten, und selbst die größten seien am Ende nur Fabrikarbeiter, bis auf diesen einen echten und wirklichen Philologen 10 .
    Dennoch, und das beobachtet er schon länger, meinen die geistigen Fabrikarbeiter – gerade sie –, ein Recht zu haben, auf ihn zu pissen . Also sprach der Student. Aber nun ist das vorbei, jetzt ist er da. Er passt auf. Er pisst zurück. Vielleicht hätte Friedrich Nietzsche diese Formulierung gebilligt.
    … jede Faser, jeder Nerv zuckt an mir … Es ist wohl wahr, der Urheber solch physiologischer Unordnung – der Betroffene wird diese Erfahrung bald in die unverfänglichere Wendung einer Rechtfertigung des Lebens durch die Kunst fassen – kann nicht nur die Welt der Körper durcheinanderbringen, sondern auch die der Zeit. Er komponiert sie einfach weg. Nichts anderes ist Erlösung. Doch im Augenblick kann niemand unerlöster sein als sein dankbarster Hörer.
    Denn heute Abend wird der Meister nicht komponieren, heute wird er warten. Und zwar nicht zuletzt auf ihn. Das bedeutet Chronos statt Kairos, das bedeutet härtesten Wettlauf gegen die Uhr. Der noch immer Unbekleidete wird im Bericht dieses Abends gewissenhaft genug sein, die Zeit zu notieren. Es ist genau halb 7 Uhr, Zeit meine Sachen anzuziehn und Toilette zu machen 11 . Was, wenn die Festgarderobe nicht passt?
    Welche Erleichterung, als er unter den dienstfertigen Handgriffen des Boten das Gegenteil feststellen darf. Ein Frack, der passt – auch das kann Erlösung sein. Jetzt sollte der Retter einsichtig sein und gehen. Aber er bleibt. Worauf wartet er? Der Student weiß es nur zu genau. Er wartet auf sein Geld.
    Ohne Bezahlung keine Ballgarderobe. Aber er, Friedrich Nietzsche, 24 Jahre alt, seinem Professor zufolge ein so noch nicht dagewesenes Wunder von einem Studenten, neben Ludwig II. von Bayern inzwischen größter Wagnerianer weit und breit, hat im Unterschied zu Letzterem kein Geld.
    Zumindest nicht jetzt. Und nicht bar. Und nicht so viel. Friedrich Nietzsche nickt dem Schneidergesellen begütigend zu, was bedeutet, dass er die Rechnung und die in ihr ausgedrückten Sachverhalte grundsätzlich akzeptiert, um den Gehilfen dann umgehend im überlegenen Ton eines Mannes von Welt darüber aufzuklären, dass er nicht mit ihm, dem Dienstmann, sondern mit seinem Herrn einen Vertrag habe, weshalb er bei diesem direkt zu zahlen gedenke. Vor allem aber: später.
    Der Geselle bekräftigt nunmehr sein Vorhaben, entweder mit der ihm zustehenden Summe oder aber ohne diese, dafür mit Anzug, die Wohnung des insolventen Auftraggebers zu verlassen. Die Beflissenheit des ältlichen Lehrlings seines Fachs wandelt sich in Herablassung und Grobheit. Das Unterbewusstsein des inzwischen wieder Unbefrackten nennt den Schneidergesellen einen Sclaven. Gegenüber Sklaven hilft nur – auch hierüber wird er seine Ansicht nie ändern – Entschlossenheit und notfalls Gewalt. Staub sollen sie fressen. In den Worten des Zahlungsunfähigen: ich ergreife die Sachen und beginne sie anzuziehen, … der Mann ergreift die Sachen und hindert mich, sie anzuziehen: Gewalt meiner Seite, Gewalt seiner Seite! Scene. Ich kämpfe im Hemde. 12
    Er weiß, er wird nur die Randfigur einer großen Gesellschaft sein, vielleicht wird Richard Wagner seinen Anzug keines Blickes würdigen. Friedrich Nietzsche wird gewiss unbeachtet genug darüber erstaunen können, dass dieser Schöpfer bislang nie geahnter Welten in die Umrisse eines einzelnen Menschen passt.
    Nicht dass er nicht in der Lage wäre, nüchtern über Richard Wagner zu
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