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Nietzsche und Wagner: Geschichte einer Hassliebe

Nietzsche und Wagner: Geschichte einer Hassliebe

Titel: Nietzsche und Wagner: Geschichte einer Hassliebe
Autoren: Kerstin Decker
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»Tristan und Isolde« ohne alle Beihülfe von Wort und Bild rein als ungeheuren symphonischen Satz zu percipiren im Stande wäre, ohne unter einem krampfartigen Ausspannen aller Seelenflügel zu verathmen? 45 Ja, sentimentale Geister wären jetzt ernüchtert.
    Dieser Mann verschont weder sich noch sein Werk. Aber Nietzsche lässt sich nicht täuschen, nur wer auch noch über seinen Schöpfungen steht, ist wirklich souverän. Thomas Mann wird im »Doktor Faustus« den ortsüblichen Dialekt einmal eine »Siebenhunderttausend-Mann-Faulheit und Ruchlosigkeit des Mundwerks mit vorgeschobenem Unterkiefer« nennen. Der Sachse Friedrich Nietzsche empfindet das ebenso – entweder man ist Altphilologe, Grieche also, oder man kommt aus Leipzig, es gibt kein Drittes. Er hat alles Sächsische, näherhin Naumburgische in sich längst abgetötet, doch ist seine früheste Jugenddichtung durchaus verräterisch:
    Hilf uns o Woddan,
    hilf uns im Streite
    wieder die bößen
    Mächte der Nacht! 46
    So klang der poetische Ertrag einer Exkursion auf den Kirchberg bei Naumburg, wo sich einst eine alte germanische Opferstelle befunden haben soll. Also liefen die Pfarrerskinder auf den Berg und bauten aus Steinen und Knochen einen Altar, den Friedrich Nietzsche und seine Schwester mit brennenden Kienspänen umkreisten: »O Woddan, erhöre uns!«
    Oder sollte die ältere Schreibweise des Gottes ganz von selbst das Sächsische als Maßstab gewählt haben?
    Richard Wagner und Friedrich Nietzsche, zwei Sachsen, der eine in Leipzig geboren, der andere in Röcken, einem Kleinstdorf an der Landstraße nach Weißenfels. Letzterer wird bald durchaus einen Sinn dafür entwickeln, dass ein großer Mann einen etwas größeren Herkunftsort benötigt, und erklären, er habe auf dem Schlachtfeld von Lützen das Licht der Welt erblickt. Noch scheinen ihre Herkunftsorte exakt die Relation ihrer Bedeutung widerzuspiegeln.
    *
    Zeit fürs Dessert im Salon Brockhaus. Richard Wagner geht von der Ein-Personen-Oper zur Lesung über. Der kleine König hatte gewünscht, alles über das Leben des Mannes zu erfahren, dessen Kunst er liebt und ihn selbst gleich mit. Da hat der Bedrängte begonnen, es Cosima zu diktieren. Das hatte den Vorteil, dass niemand sich über die Zeit wunderte, die beide miteinander verbrachten, denn das zu Schildernde währt schon sehr, sehr lang. Und im Diktat wird es kaum kürzer. »Mein Leben« ist noch immer unvollendet und ungedruckt.
    Der einzige Gast im strengen Sinne muss noch am nächsten Tag lachen, sobald er an den Vortrag denkt, es ist eine Szene aus Wagners Leipziger Studienleben.
    Studienleben? Schon von einem Schulleben des jungen Richard Wagner lässt sich nur mit großer Gutwilligkeit sprechen; der doppelt Vaterlose stellte sich immer wieder vom Schulbesuch frei, schon weil bereits der Junge eine deutliche Ahnung davon besaß, dass das Leben viel zu kurz sei, um es in Anstalten zuzu bringen und »in meiner freien Entwicklung mich hemmen zu las sen« 47 . Was für ein Gegensatz zum Pforta-Zögling und Musterschüler Nietzsche, der Zuhörer wird ihn spüren, selbst wenn Richard Wagner seine vorsätzliche Schulabstinenz mit keinem Wort streifen sollte.
    Der Schüler Richard Wagner hatte bereits der Dresdener Kreuz schule und der Leipziger Nikolaischule den Rücken gekehrt; und dass er sich schließlich bereit erklärte, im Revolutionsjahr 1830 versuchsweise die Thomasschule zu betreten, geschah »rein in der Absicht, durch den bloßen Anschein ihres Besuchs mich bis zur Berechtigung zum Abiturienten-Examen durchzuarbeiten«. 48 Dieses wiederum benötigte er, um seinem vorläufigen Lebensziel näher zu kommen: »hemmungslos verwildern«. Endlich einer Lands mannschaft angehören dürfen!
    Schon den Achtjährigen hatte nichts so beeindruckt wie die Existenzform der Studenten in ihrer altdeutschen Tracht, »mit dem schwarzen Samtbarette, den am Hals umgeschlagenen Hemd kragen und dem langen Haar« 49 . Zum ersten Mal begegnete Richard Wagner sich selbst in seinem späteren bevorzugten Erscheinungsbild, die Frisur ausgenommen.
    Der Weg der Immatrikulation an der Universität war der einzige, der auf den Paukboden der Landsmannschaft »Saxonia« führte. Aus dem Zimmer des Rektors war er, den wehenden Schein in der Hand, direkt dorthin gestürzt.
    Gewiss versucht der einzige Gast, nicht durch das ungebührlich mitwisserische, missdeutbar vertrauliche Lächeln des Sachverständigen aufzufallen, geht es doch um die einzige Existenzform,
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