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Nietzsche und Wagner: Geschichte einer Hassliebe

Nietzsche und Wagner: Geschichte einer Hassliebe

Titel: Nietzsche und Wagner: Geschichte einer Hassliebe
Autoren: Kerstin Decker
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ihm ein letzter Ausweg, jene zu begleichen. Er verlor. Nie konnte er so je wieder nach Hause kommen, so viel begriff er und setzte unter dem Schrecken dieser Einsicht seinen allerletzten Taler. Und gewann. Und gewann noch einmal. Wenn ich die Rente meiner Mutter zurückholen kann, spiele ich nie wieder, versprach er sich. Und er gewann weiter. Gewann so lange, bis die Bank wegen Geldmangel schließen musste. Damals überdachte Richard Wagner mit äußerster Konzentration seine Lage und kam zu dem Schluss, dass dies ein sehr guter Augenblick sei, seine Spielerkarriere zu beenden. Drei Monate hatte sie gewährt. Vielleicht hätte er später unter der Tonnenlast seiner Schulden doch an den Spieltisch zurückkehren sollen?
    Es gibt noch großartigere Formen, sich selbst zu riskieren und den Einsatz der ganzen Existenz zu wagen, das wusste er damals schon: die Kunst, die Musik. Dass er nicht für einen Brotberuf studieren, sondern Musiker werde, hatte er seiner Familie bereits mitgeteilt.
    Noch einmal erklingen bei Schwager Brockhaus die »Meistersinger« im Ein-Mann-Vortrag; vorher sprechen der Gastgeber und der – streng genommen – einzige Gast des Abends über Schopenhauer, den zweiten Bürgen von Nietzsches Existenz und Ahnherr des »Tristan«. Im Geiste Schopenhauers lachen beide sehr über den Philosophenkongress in Prag, denn ist ein Philosophenkongress nicht ebenso absurd wie eine Dichterakademie oder eine Komponistentagung?
    Dieser Student hier gehört nicht zu den Dummen, registriert der Meister, der durchaus weiß, dass Menschen solcher Geistesverfassung unter Wagnerianern nicht ganz selten sind. Und er ist frei von jedem vorausempfundenen Dünkel seines zu erwerbenden Standes. Ein Akademiker und doch kein Akademiker. Das gefällt ihm. So einer ist er auch. Richard Wagner verabschiedet sich von Friedrich Nietzsche mit dem Vorschlag, ihn doch zu besuchen, falls ihn sein Weg einmal am Vierwaldstätter See vorbeiführen sollte.
    Friedrich Nietzsche schreibt die Bilanz des Sonntags für Freund Rohde am Morgen danach. Und aus Montagssicht lässt sich der Vorabend gar nicht präziser zusammenfassen: Richard eben.
    Der verlässt noch am selben Tag seine Heimatstadt und fährt zurück nach Tribschen.
    An Cosima, unterwegs: »Schneefall, Bahnunterbrechung, grosse Verspätung. … Trage Schicksal. Will« 55 .
    Eine Woche später folgt ihm Cosima, diesmal für immer. Die Wagner-Kinder sind bei ihr. Seine eigenen Töchter gibt Bülow nicht frei. Mitten in der Nacht erreichen Cosima, Isolde und die noch nicht zweijährige Eva Tribschen.

ERSTER AUFZUG:
TRIBSCHEN
    Aufgabe unserer Zeit:
die Kultur zu unserer Musik zu finden.
    Friedrich Nietzsche, Ende 1870

Die »Insel der Seligen«, Wagners Villa in Tribschen.
    »Verwundet hat mich, der mich erweckt«
    Es ist bald Mitte April, als eine Droschke vorm Naumburger Eckhaus am Weingarten 18 hält. Der Kutscher hatte bereits die Eltern Nietzsche zur Trauung gefahren, jetzt fährt er den Sohn zum Bahnhof. Vielleicht macht er eine anerkennende Bemerkung über den jungen Mann, den einstigen Zögling von Schulpforta. Wie ein Pennäler sieht er nun nicht mehr aus.
    Mutter, Schwester und er selbst haben hart an seinem neuen Erscheinungsbild gearbeitet. Würdevoll sollte es werden, alles kam darauf an, ihn rapide altern zu lassen. Jetzt war es mit einer neuen Ballgarderobe nicht mehr getan; Mutter und Schwester wählten Stoffe, Kleiderschnitte und Hüte, wie sie alte Männer tragen, und der schon wieder Einzukleidende war jedes Mal einverstanden. Wahrscheinlich übt er auch schon längst ein neues, sein wahres Alter überspielendes, also vor allem würdevolles Betragen, mit dem er in Basel aufzufallen gedenkt.
    Am ersten Tag kommt er bis nach Köln und findet es so abscheulich wie sein Bruder im Geiste Heinrich Heine. Aber Köln ist ohnehin nur Station auf dem Weg nach Bonn, und diese Stadt seiner frühen Studentenzeit muss er noch einmal sehen, jetzt, da er seiner Professur entgegenfährt. Von Bonn aus hatte er seiner Mutter damals mitgeteilt, dass er das Theologiestudium aufgebe und nie und nimmer Pfarrer werde. Es war keine Frage um Erlaubnis und Zustimmung gewesen, nur die Kundgebung einer längst getroffenen Entscheidung. Hier war er zuerst Ritschls Schüler geworden und dem Lehrer dann nach Leipzig gefolgt. Bonn benimmt sich, als könne es sich an ihn erinnern.
    Es scheint ihm alles so vertraut. Er besteigt bei mildestem Frühlingswetter ein Dampfschiff, kommt bis Bieberich und
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