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Nietzsche und Wagner: Geschichte einer Hassliebe

Nietzsche und Wagner: Geschichte einer Hassliebe

Titel: Nietzsche und Wagner: Geschichte einer Hassliebe
Autoren: Kerstin Decker
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Neumitglied der »Saxonia« den Veteranen des Studententums fragen können. Stattdessen fragte es sinngemäß: Und von der Tugend meiner Schwester hältst du wohl nichts? – Der Mecklenburger versuchte auszuweichen, doch der Junge war schneller und sprach so die furchtbarste aller nur denkbaren Beleidigungen: »Du bist ein dummer Junge!«
    Weshalb er nun wohl für die Ehre seiner Schwester Luise den Heldentod sterben musste, gefällt von krummen Säbeln. Mag sein, der einzige Student im Raum lächelt leise. Nicht ohne Grund hatte Friedrich Nietzsche hier gleich den »Philologischen Verein« mitgegründet, denn ein Student, so viel ist klar, muss einer Verbindung angehören, und dieser, so viel ist weiterhin klar, würde sich einer wie Degelow nicht auf zehn Schritt nähern. Nietzsche wollte seine Gesellschaft um der Klarheit willen gar »Vereinigung aller wirklich strebsamen Philologen in Leipzig« 52 nennen und war besonders besorgt, genug Pförtner zu gewinnen, wahrscheinlich, um Eindringlinge abzuwehren. Obwohl auch im Philologischen Verein Rüpel vorkommen, doch nur in Vorträgen. Eben jetzt, Anfang November, am Tag bevor er den Willst-du-Richard-Wagner-Kennenlernen?-Zettel fand, hatte Friedrich Nietzsche den Eröffnungsvortrag dieses Semesters gehalten, fast frei, über einen geistigen Rüpel der Antike, den Cyniker Menippus und die Varronischen Satiren.
    Das 17-jährige Neumitglied der »Saxonia« dagegen hatte es fast dreißig Jahre zuvor nicht einmal für nötig gehalten, vor seinem Verstand Wachen aufzustellen. Es war so erhoben von sich und der Ehre, die ihm widerfahren war, dass es sich außerstande sah, den anderen seine Auserwähltheit zu verbergen, weshalb es bald noch mehr Duellforderungen in der Tasche hatte. Sein Stolz hinderte ihn daran, über die eher praktisch-herabstimmende Frage »Wie überlebe ich ein Duell?« so nachzudenken, wie es einem Neuling auf dem Felde der Ehre zukommt.
    Das Duell ist der letzte übrig gebliebene völlig ehrenvolle Weg zum Selbstmord, leider ein Umschweif, und nicht einmal ein ganz sicherer 53 , wird Friedrich Nietzsche einmal, lange nach ihrem Bruch, notieren und vielleicht an diesen Abend mit Richard Wagner denken.
    Der furchtbare Mecklenburger konnte Richard Wagner nicht gleich erstechen, weil er erst noch nach Jena verreisen musste, wo er einer Herausforderung auf Stoßwaffen zu genügen hatte. Dort wurde er erstochen. Vielleicht wünschte sich Richard Wagner nun, er hätte nur diesen einen Gegner gehabt. Er würde bald ein großer Anhänger der Revolution werden, aber noch nie hat jemand sein frühestes Motiv bemerkt: Ein zweiter Herausforderer schloss sich durchreisenden polnischen Freiheitskämpfern an, die gen Westen zogen, wenn auch nur, um seinen Leipziger Schulden zu entkommen. Blieb ein dritter: Tischer, einer der besten Fechter der Stadt. Der Vorlesende: »Vormittags um 10 Uhr war ich bestellt, und verließ die Wohnung meiner Familie, lächelnd, mit dem Gedanken, was meine Mutter und meine Schwestern sagen würden, wenn ich, in dem vorausgesehenen erschreckenden Zustande, in einigen Stunden nach Haus gebracht werden würde. Als ich am Haus meines Seniors auf dem Brühl anlangte, grüßte mich derselbe, ein angenehmer ruhiger junger Mann, Herr v. Schönfeld, mit herabhängender Pfeife aus dem Fenster, mit den Worten: › Du kannst heimgehen, Kleiner; es ist nichts, Tischer liegt im Spital.‹« 54 Der Herausforderer hatte betrunken in einem Bordell randaliert, weshalb ihn die Huren verprügelten und ihm eine schwere, höchst ehrenrührige Verwundung zufügten, dann warfen sie ihn aus dem Hurenhaus. Da er aber, solcherart zentral versehrt, unmöglich Mitglied einer Landsmannschaft bleiben konnte, wurde der Meisterfechter auch hier exmatrikuliert. –
    Das Verschiedene ihres Naturells muss Friedrich Nietzsche schon an diesem ersten Abend klargeworden sein. Da spielt einer mit dem eigenen Leben als Einsatz und riskiert, dass der Vorhang sich vor ihm schließt wie im Theater, nur eben endgültig. Vor lauter Mutwillen. Auch der Betroffene kann sich sein Temperament mitunter nur mit seinem Namen erklären. Wagner, so heißt er nun einmal. Dass Namen Schicksal sind, werden all seine Opern verkünden. Nie sollst du mich befragen … Und hätte Friedrich je die Witwenrente seiner Mutter verspielt?
    Schulden hatte der Lebensanfänger schon damals, fast will es scheinen, als wäre er bereits mit Schulden zur Welt gekommen. Die Rente seiner Mutter zu setzen, schien
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