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Nietzsche und Wagner: Geschichte einer Hassliebe

Nietzsche und Wagner: Geschichte einer Hassliebe

Titel: Nietzsche und Wagner: Geschichte einer Hassliebe
Autoren: Kerstin Decker
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Vorbemerkung
    Zwei Sachsen sind verantwortlich für die sublimsten, zartesten Laute, die in ihrem Jahrhundert zu Musik und Sprache wurden, weit hinüberwehend zu uns. Welche bis dahin – und noch immer – unerhörten Einführungen ins Dasein! Beide verstanden sich neben allerleisesten Tönen auch auf Kriegsrufe und fielen durch lang nachwirkende Grobheiten auf.
    Nietzsche und Wagner, zwei große Seelen(ver)führer. Wendungen, in denen das Wort »Führer« vorkommt, haben in unseren Ohren keinen guten Klang. Beide gehören bis heute zum Kreis der Personen, vor denen am meisten gewarnt wird. Aber nur wer zurückhaltend von sich denkt, hat Grund zur Sorge. Die anderen entscheiden selbst, ob und wo sie abbiegen. Jedoch: Verführungen sollte man sich überlassen.
    Richard Wagner und Friedrich Nietzsche waren befreundet, nein, genauer, sie haben sich geliebt. Wer jetzt fragt »Wieso?«, mag seinen Liebesbegriff überdenken.
    Dies ist, um es vorsichtig zu sagen, nicht die erste Publikation über den Bund des Musikers, der auch ein Philosoph war, mit dem Philosophen, der auch ein Musiker war. Jeder Autor, der das soundsovielte Buch über einen Gegenstand schreibt, rechtfertigt dies durch die abenteuerliche Annahme, eine lange Irrfahrt des Geistes zu beenden. Vorliegende Studie macht da keine Ausnahme; Hinweise finden sich zur Schonung des Lesers erst an Ort und Stelle. Hier nur so viel: Nuancierungen sind Grundsatzentscheidungen!
    Zeitgenossen erschlugen Richard Wagner und Friedrich Nietzsche mit Titeln schwer wie Granitplatten, vorzugsweise »Geistesheros« oder »Genius«. In der Formulierung kaum, aber in der Sache haben sie recht: Die Begegnung beider ist in der deutschen Geistesgeschichte nur der Goethes und Schillers vergleichbar.
    Doch nicht nur ihr Begriff der Griechen war keineswegs klassisch. Ihr »Bund« war es auch nicht. Mich schaudert immer bei dem Gedanken, ich könnte abseits von Ihnen liegen geblieben sein 1 , teilte der junge Friedrich Nietzsche dem mehr als dreißig Jahre Älteren mit, um sich fünfzehn Jahre später zu korrigieren: Ist Wagner überhaupt ein Mensch? Ist er nicht eher eine Krankheit? Er macht Alles krank, woran er rührt … Ich habe Lust, ein we nig die Fenster aufzumachen. Luft! Mehr Luft! – 2 Es gibt nur eine Entschuldigung für solchen Sinneswandel: vollkommene Aufrichtigkeit.
    Was lag hier vor? Ein Rätsel, riefen die einen. Verrat!, meinten die anderen. Konsequenz, höchste Form der Treue: Treue gegen sich selbst!, vermuteten Dritte.
    Die Hinterbliebenen der ersten Nach-Nietzsche- und Nach-Wagner-Generation spezialisierten sich zumeist auf bellizistische Untersuchungen des Typs »Wer war der Schuft?«. Zwei Damen bewachten inzwischen den Hort der Toten, Nietzsches Schwester in Weimar und Cosima Wagner in Bayreuth. Letztere hielt schon die Existenz des Konkurrenzhorts Nietzsche für ein Missverständnis und sah mit ohnmächtiger Bestürzung den Resonanzraum des Jüngeren europaweit werden. Einst war er auch ihr Freund; die Lektüre des »Zarathustra« fasste sie gleichwohl in den bündigen und für eine Dame mit aristokratischem Hintergrund erstaunlichen Befund: »Spasmen der Impotenz«. Welch überraschende Evaluationsebene einer Philosophie. Aber die Dame war auf der richtigen Spur.
    Die Hauptpersonen dieses Buches stellten nicht zuletzt Fragen der Form: Kann der Unterleib denken? Nietzsches Philosophie ist hierauf eine Antwort. Und wenn er Musik machen würde, wie würde sie klingen? Wagners Musik ist hierauf eine Antwort.
    Die exzentrischen Ausflüge der Physis weisen auf ihre akute Erlösungsbedürftigkeit. Oder ist es die des Geistes? Man dürfte von einer Vergeistigung der Sexualität sprechen, vorausgesetzt, das eine verschwindet nicht im anderen. Im Gegenteil!
    Wer je den Anfang des »Tristan« gehört hat, weiß es: Zwei ge genläufige chromatische Linien stürzen aufeinander zu, zwei Quarten verharren nur im Abstand einer Terz übereinander. Da können sie unmöglich bleiben. Da können sie aber auch nicht weg, jedenfalls nicht so, wie es die Musik bisher vorsah. Wie dann? Es ist eine schier unerträgliche Anziehung und Abstoßung zugleich. So viel Abgrund, so viel leerer Raum war noch nie in der Musik. Und zur selben Zeit so viel schmerzliche Gebundenheit. Der Tristanakkord, Tor zur Moderne in der Musik, ist eine gute Gelegenheit für einen Selbsttest. Wer Ohren hat, das zu hören, zählt zu den Erlösungsbedürftigen. Anders gesagt: Wer Ohren hat, das zu hören, hört
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