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Die Familie: Roman (German Edition)

Die Familie: Roman (German Edition)

Titel: Die Familie: Roman (German Edition)
Autoren: Richard Laymon
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    Darcy Raines, die mit dem Rücken zur Gruppe am Bug stand, packte eine aus der Höhlenwand herausragende Felszacke und hielt das Boot an. Ohne loszulassen, drehte sie sich zur Seite.
    Kyle Mordock starrte zu ihr hinauf. Die erste Sitzbank des Boots war frei. Er saß auf der zweiten, neben einem jungen Paar, das sich an den Händen hielt. Sein Platz.
    Jeden Tag, seit sie vor zwei Wochen begonnen hatte, als Führerin in der Höhle zu arbeiten, war der Junge zu mindestens einer Tour aufgetaucht. Es gab noch andere Führer, doch er ging nie bei ihnen mit, nur bei Darcy. Er blieb stets in ihrer Nähe und schaffte es zumeist, denselben Sitz zu ergattern, den gleich hinter ihr, den mit dem besten Ausblick – nicht auf die Höhle, sondern auf Darcy. Er redete kaum. Er beobachtete sie einfach mit seinen winzigen wilden Augen.
    Jetzt glotzte er ihren Hintern an. So wie Darcy dastand, zur Seite gedreht und einen Fuß auf den Bug gestützt, spannte sich ihre Hose eng über den Pobacken. Sie konnte Kyles Blick spüren.
    Ein fünfzehnjähriger Lustmolch.
    Auch wenn er der Sohn des Chefs ist, dachte sie, ich muss etwas gegen diesen Blödsinn unternehmen, sonst treibt er mich noch in den Wahnsinn.
    Tom hielt das zweite Boot hinter Darcys an und nickte ihr zu, damit sie begann.
    »Endstation, Leute«, sagte sie. »Alle aussteigen.«
    Es erklang Gemurmel und leises Lachen in den Booten. Einige Leute sahen sich um, als wollten sie ihre Anweisung befolgen, doch dann verstanden auch sie den Scherz und lachten noch lauter als die anderen.
    »Nach Ihnen«, rief ein Mann aus dem zweiten Boot.
    »Das Wasser steht im Lake of Charon zu dieser Jahreszeit nur ungefähr hüfthoch, aber im Frühling steigt es durch das Versickern von Schmelzwasser und Regen deutlich an. Trotzdem kann ich ein Bad nicht empfehlen. Das Wasser ist ungefähr zehn Grad kalt.«
    Darcy warf Kyle einen Blick zu. Er sah ihr ins Gesicht. Sie wandte sich ab und nickte zur Steinmauer vor dem Boot.
    »Diese Trennwand«, sagte sie, »markiert das Ende des öffentlich zugänglichen Teils der Höhle. Die Mauer wurde 1923 von Ely Mordock gebaut. Ursprünglich konnte man die Höhle auf ihrer ganzen Länge erkunden – mehr als eine Meile. Etliche Jahre führte Ely Gruppen durch den natürlichen Zugang im steilen Berghang nahe der östlichen Grenze seines Grundstücks in die Höhle. Es war eine schwierige ganztägige Wanderung und nichts für schwache Nerven. Damals gab es weder den Weg noch die Beleuchtung. Ely stellte Wathosen, Lunchpakete und Fackeln zur Verfügung.
    Doch er träumte davon, die Wunder der Höhle der Allgemeinheit zugänglich zu machen, nicht nur ein paar Hartgesottenen, deshalb begann er 1921 mit dem Bau der Aufzüge. Die Schächte wurden fünfundvierzig Meter tief in den Boden getrieben, um an dem ehemals hinteren Ende der Höhle einen Zugang zu schaffen. Als die Aufzüge fertig waren, wurde damit begonnen, einen Gehweg zu bauen und Beleuchtung zu installieren.
    Dann kam es zu der Tragödie. Am 12. Juni 1923 wanderten Ely und seine Frau Elizabeth durch einen Abschnitt irgendwo zwischen hier und dem natürlichen Zugang, als sie ausrutschte und in eine tiefe Spalte fiel.«
    »Großer Gott«, stöhnte eine ältere Frau.
    »Ely ließ sich mit einem Seil hinab, doch die Spalte, in die seine Frau gefallen war, schien bodenlos zu sein, und er musste alle Hoffnung aufgeben, sie zu retten … oder ihren Leichnam zu bergen.
    Er war gramgebeugt und fest entschlossen, zu verhindern, dass die Spalte weitere Todesopfer forderte. Also verschloss er den natürlichen Zugang und baute mit der Steinmauer eine dauerhafte Absperrung, damit niemand mehr die gefähr liche Osthälfte der Höhle betreten konnte. Faktisch wurde damit dieser ganze Teil zur Gruft von Elizabeth Mordock.«
    »Das ist schon über sechzig Jahre her«, rief ein Mann aus dem zweiten Boot. »Gibt es keine Pläne, diesen Bereich wieder zu öffnen?«
    Darcy schüttelte den Kopf. »In Elys Testament ist festgelegt, dass die Mauer niemals eingerissen werden darf. Seine Nachkommen haben beschlossen, diesen Wunsch zu respektieren.«
    »Kommt einem wie eine Vergeudung vor«, sagte der Mann.
    Ein kräftiger Jugendlicher in Darcys Boot hob die Hand, als wäre er in der Schule. Sie rief ihn auf. »Wie wirkt sich die Mauer auf den Fluss aus?«
    »Gute Frage. Die Mauer bremst den natürlichen Lauf des Flusses Styx. Ehe sie gebaut wurde, gab es keinen Lake of Charon.«
    »Es ist also eine Art Damm«, sagte der
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