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Nietzsche und Wagner: Geschichte einer Hassliebe

Nietzsche und Wagner: Geschichte einer Hassliebe

Titel: Nietzsche und Wagner: Geschichte einer Hassliebe
Autoren: Kerstin Decker
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Hause.
    Diese Überzeugung wird der Student der Altphilologie Friedrich Nietzsche ein Leben lang nicht aufgeben. Dabei bringt der Mann, dem er noch an diesem Abend gegenüberstehen soll, sie nur in eine höchst eigenwillige, viel beargwöhnte Reihenfolge. Dennoch, der Student könnte sogar so weit gehen wie ein anderer, fast gleichaltriger junger Mann – ein König sogar – und den Einladenden den »Grund meines Daseins« nennen. Nie hat er das tiefer empfunden als eben jetzt.
    Vor ein paar Tagen erst, Ende Oktober, als die Leipziger »Win terkonzerte« begannen, hörte er das »Tristan«- und das »Meis ter singer«-Vorspiel wieder. Ein Kritiker meinte bei Letzterem direkt dem Untergang Pompejis beizuwohnen, auch der Student spürte das Beben, aber wer sagt denn, dass Untergänge nicht die wahren Aufgänge sind: … jede Faser, jeder Nerv zuckt an mir, und ich habe lang nicht ein solch andauerndes Gefühl von Entrücktheit gehabt. 6 Das war eine durchaus riskante Befindlichkeit, denn der Zuhörer wusste sich in unnachsichtigster Gesellschaft. Wenn seine Mitakademiker und er im Theater sitzen, so sitzen sie zu Gericht: unmittelbar vor mir … Bernsdorf, jenes signalisirte Scheusal, links neben mir Dr. Paul, jetzt Tageblattheld, 2 Plätze rechts mein Freund Stade, der für die Brendelsche Musikzeitung kritische Gefühle produzirt: es ist eine scharfe Ecke: und wenn wir Vier einmüthig mit dem Kopfe schütteln, so bedeutet es ein Unglück. 7 Machten die anderen gar Pompeji-Gesichter? Und er, gewöhnlich weder zu Milde noch Schonung bereit, begabt mit einem Verstand wie ein Rasiermesser – er brachte die einfache Bewegung des Kopfes nicht zustande.
    Vielleicht fiel es ihm schon schwer genug, einen möglichst überlegenen Gesichtsausdruck zu wahren, wie ihn nur besitzt, wer über den Dingen steht und sich nicht mitten in ihnen befindet.
    Dingen? Nein, nichts Festes mehr; das war ein Meer, ein Meer aus Lust und Schmerz, und er war nichts als ein Stück Treibgut darin, ausgeliefert jedem neuen Wellenschlag. Das war sehr kränkend. Das war vollkommen inakzeptabel. Und doch, sollte das Glück am Ende eine Kränkung sein? Alles kam darauf an, seinen spastischen Zustand vor den drei Großkritikern zu verbergen.
    Drei Viertelstunden noch, und der Frack ist fertig? Es gelang dem Schneider, seinen ungehaltenen Kunden zu besänftigen. Den Rückweg begann dieser betont langsam, um die längste aller Stunden abzukürzen. Schnee und Regen spürte er kaum noch, er flanierte durch das Jahresendtiefdruckgebiet. In seinem Lieblingscafé Kintschy überflog er die neueste Ausgabe des »Kladderadatsch«. Sie meldet, dass Richard Wagner in der Schweiz ist. Der Student lächelte leise. Das weiß er aber besser.
    Niemand darf erfahren, dass Richard Wagner in Leipzig ist, schon gar nicht die Presse. Deshalb flüstern es sich die Leipziger nur zu; alle Dienstboten Brockhausens, bei dem er wohnt, sind stumm gemacht wie Gräber in Livree 8 , und auch er hatte zwei Tage zuvor nur eine Flüsterkarte erhalten, auf der stand: Willst du Richard Wagner kennenlernen, so komme um ½ 4 in das Café théatre. Er erschien, der Kontaktmann raunte: Morgen Nachmittag bei Brockhaus! Er kam, natürlich kam er, aber der Meister war schon wieder weg. Ausgegangen mit einem ungeheuren Hute auf dem großen Schädel, seinem Wotanshut.
    War Friedrich Nietzsche enttäuscht? Oder fühlte er nicht viel mehr seinen Realitätssinn bestätigt? Selbst wenn einer wie Wagner tatsächlich in der Lage sein sollte, Menschengestalt anzunehmen, lässt sich diese doch nicht einfach so stellen, am Sonnabendnachmittag im Salon Brockhaus. Nun also Sonntag, Sonntagabend. Und der begann jetzt.
    Alles Glück will Ewigkeit, will tiefe, tiefe Ewigkeit, wird er kurz vor Ende seines bewussten Lebens notieren. Das eben ist der Unterschied: Das Glück will diese Frist nur, das Warten aber nimmt sie sich einfach, und wenn es nicht einmal eine Stunde ist. Zurück in der Lessingstraße 22, war der Schneider noch immer nicht da. Er zwang sich, eine Dissertation zu lesen: Die Vandalen plündern Rom und entführen Eudocia, die Tochter des weströmischen Kaisers Valentian III. Gellendes Läuten drang in kurzen Abständen in die Plünderung Roms und die Verzweiflung Eudocias. Bis der Student begriff, dass der Vandalenlärm nicht aus dem Rom des Jahres 455 kam, sondern von seiner Gartenpforte. Und wirklich, da stand er, ein dünner Alter mit Paket, schon sehr ungeduldig. Und er besaß keinen Schlüssel
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