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Nietzsche und Wagner: Geschichte einer Hassliebe

Nietzsche und Wagner: Geschichte einer Hassliebe

Titel: Nietzsche und Wagner: Geschichte einer Hassliebe
Autoren: Kerstin Decker
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noch immer missbilligte, das ging ihn an. Andererseits konnte er nicht nachgeben. Es handelte sich bei Der Schmerz ist der Grundton der Natur also um eine Polemik in Noten. Sie fiel in der »Germania« durch. Doch das Gespür, dass in diesem Gedanken eine Entdeckung verborgen lag – und er würde derjenige sein, der sie macht, zumindest ihr Zweitentdecker würde er sein, denn Arthur Schopenhauer war in solchen Dingen immer der Erste –, hat ihn seitdem nie mehr verlassen.
    Und dennoch, auch nach so vielen Jahren muss er mitunter den Wagner-Verächtern noch zustimmen. Etwa seinem früheren Gewährsmann in Sachen Musik, Otto Jahn. Zum letzten Mal geschah das auf den Tag genau vor einem Monat. Friedrich Nietzsche hat es seinem Freund und werdenden Wagnerianer Erwin Rohde so geschildert: Er gebe Jahn vielfach recht, insbesondere darin, daß er Wagner für den Repräsentanten eines modernen, alle Kunstinteressen aufsaugenden und verdauenden Dilettantismus hält 16 , also gewissermaßen für einen viele Partikulardilettantismen in sich fassenden Gesamtdilettantismus. Und er hatte sinngemäß und in mildernder Absicht hinzugefügt, dass es sich um ein Dilettantentum der entschieden bedeutenden Art handele.
    Es gehöre nun einmal etwas Enthusiasmus dazu, um einem wie Wagner gerecht zu werden. Und Jahn höre ohnehin nur mit vor Widerwillen halbverklebten Ohren. Dann fällt der Satz, der bei Thomas Mann noch eine so große Karriere machen wird: Dieser Jahn sei nun einmal ein Gesunder, dem Tannhäusersage und Lohengrinatmosphäre eine verschlossene Welt sind. 17 Heißt: Wer in dieses Reich eintreten will, muss krank genug sein. Er ist es.
    Und all das stellte Friedrich Nietzsche noch vor dem Meistersinger-Tristan-Abend fest, als er die Wagner-Abwehrstellungen seiner Seele endgültig aufgab und befand, er sehe sich fürderhin außerstande, sich dieser Musik gegenüber kritisch zu verhalten.
    Ja, es war eine Niederlage.
    Und eine solche droht auch jetzt, im Zweikampf mit dem Faktotum der Schneiderwerkstatt. Der Mann ohne Hose versucht es mit einer Geste definitiver Überlegenheit: Endlich Aufwand von Würde, feierliche Drohung, Verwünschung meines Schneiders und seines Helfershelfers, Racheschwur 18 . Da gelingt es dem Sclaven, dem Kämpfer im Hemde das Objekt der Begierde zu entreißen.
    Der Sclave flieht treppab. Mit Frack.
    Die Situation des Zurückbleibenden stellt sich wie folgt dar: ich brüte im Hemde auf dem Sofa und betrachte einen schwarzen Rock, ob er für Richard gut genug ist. Draußen gießt der Regen. 19
    Richard?
    Das ist kühn.
    So nähert man sich keinem Gott.

Das gab es noch nie: Der Dirigent
beherrscht das Orchester.
Dionysos Wagner am Pult.
    »Hilf uns o Woddan!«
    Unbefrackt, doch in gesteigerter Romanstimmung, sei er durch den Leipziger Novemberschneeregenabend gelaufen, berichtet der Student. Was zu bezweifeln ist.
    Wahrscheinlich ist er froh, dass seine Beine ihn tragen; auch ist es nicht schwer, sich den Schock zu vergegenwärtigen, der den Gast überkommen haben muss, als er feststellt, dass er gewissermaßen der Einzige ist, seinen Kontaktmann aus dem Café theatre nicht mitgezählt.
    Der Einzige!? Der, auf dessen ungenügenden schwarzen Gehrock alle Blicke sich nun richten? Die übrigen Anwesenden gehören mehr oder weniger zur Familie.
    Der Student begrüßt den Gott. Aber ist das überhaupt ein Einziger, der ihm da – gewissermaßen als Existenzbeweis – die Hand reicht? Sind es nicht zwei? Nicht wenige, die Richard Wagner trafen, haben dessen Doppelheit bezeugt: Von vorn ist er ohne Zweifel Faust. Von der Seite ist er mehr Mephistopheles. Andere meinen, bis zur Nase – welche Stirn! was für ein Hinterkopf! – handele es sich um einen Gott, darunter beginne der Dämon: Das aus dem Gesicht stürzende Kinn, wo will es hin? Der schmale Mund wird es nie verraten.
    Friedrich Nietzsche sagt vor Schreck gar nichts zur Nachwelt. Vielleicht, weil er genau dem gegenübersteht, den er erwartet hat, einem Gottteufel, wem sonst? Grund und Abgrund in einem, in Menschengestalt.
    Richard Wagner mag es, fremde Leute zu erschrecken. Die Abwesenheit von Sängern und eines Orchesters hat ihn noch nie an der Aufführung einer Wagner-Oper gehindert, und er hat ein wenig Selbsterheiterung nötig. Wer annimmt, er sei nur zu zweit, wird jetzt belehrt: Richard Wagner, das sind viele. Er setzt sich ans Klavier – Nietzsches Freund Gersdorff wird später bemerken, Wagner selbst habe erklärt, er spiele Klavier »wie
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