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Nietzsche und Wagner: Geschichte einer Hassliebe

Nietzsche und Wagner: Geschichte einer Hassliebe

Titel: Nietzsche und Wagner: Geschichte einer Hassliebe
Autoren: Kerstin Decker
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die er näher beurteilen kann – um ein Studentenleben. Das seine währt jetzt schon bald vier Jahre. Aber wie fremd sind ihm die, deren Nähe der Vorlesende so sehr suchte. Nietzsche sagt in seinem Bericht dieses Abends nicht genau, welche Szene Wagner vorträgt, aber es gibt fast keine andere Möglichkeit, es muss die folgende sein:
    Nicht ohne eine gewisse Beklommenheit wird Friedrich Nietzsche von Gebhardt hören, diesem Leipziger Siegfried, der Fiaker anhielt wie niemand sonst, denn er griff den Wagen einfach zwischen die Speichen. Und wenn er besonders gut gelaunt war, hob er die Freunde neben sich hoch und trug sie ein Stück durch die Luft. Vielleicht auch Stötzer, zwanzigstes Semester. Oder seinen Freund Degelow, Mecklenburger, der Richard Wagners Aufenthalt auf Erden um ein Haar jäh beendet hätte: Alle, seit unvordenklichen Zeiten studierend, also statt der üblichen drei bereits sechs oder sieben Jahre, verfügten über eine schlimme Vergangenheit, eine ebensolche Gegenwart und keine Zukunft. »Mit Bewusstsein« gehörten sie »einer dem Untergange verfallenen Welt« an, erklärt Richard Wagner. Er hat gewiss nicht die Absicht, die anwesenden Akademiker zu schonen, diesen etwas verlegenen Studenten etwa oder seinen Schwager, den Professor der Orientalistik. Oder diese Professorengattin, die Freundin seiner Schwester. Früher waren die Freundinnen seiner Schwester schöner.
    Akademiker sollte man grundsätzlich nicht schonen, glaubt Richard Wagner und wird nie aufhören, die deutschen Professoren zu seinen Lieblingsfeinden zu zählen. Allerdings macht er für Hermann Brockhaus eine Ausnahme, denn es ist ihm einst gelungen, ihn und seine Schwester während eines zweitägigen Besuchs zu Schopenhauer zu bekehren, den nicht zu kennen sich der deutsche Durchschnittsakademiker noch immer als besonderes Verdienst anrechnet. 50 Ja, er bekennt sich noch immer zu jener besonderen »Kongregation verwegener und verzweifelter junger Wüstlinge«, der er einst angehörte. Bis zu dem Abend, als das Neumitglied der »Saxonia« den aufrichtig widerstrebenden Degelow dazu zwang, es zum Duell zu fordern. Auf krumme Säbel!, sprach Degelow, wahrscheinlich mehr erbleichend als der Herausgeforderte. Denn der war unsagbar stolz und noch ganz benommen von der Erkenntnis: Wovon er bislang nur gehört und gelesen hatte – es funktionierte tatsächlich! Es war ganz einfach, zum Duell gefordert zu werden. Man musste nur sagen: »Du bist ein dummer Junge!« Mit dem richtigen Nachdruck natürlich. Mit der angemessenen Entschlossenheit. Richard Wagner wusste sich unendlich erhöht.
    Wie mag der junge Philologe diese Mitteilungen aufnehmen, vorausgesetzt, es sind genau diese? Würde er, Friedrich Nietzsche, es je so weit kommen lassen? Im Gegenteil, er vermeidet es sorgfältig, solchen wie Degelow, Stötzer und Gebhardt überhaupt zu begegnen.
    In Bonn war Friedrich Nietzsche aus Versehen der Burschenschaft »Franconia« beigetreten, fand sie aber über alle Maßen plebejisch und abstoßend . Nein, er hat kein Talent zu verwildern. Jeder »Ehrgeiz nach unten«, wie Thomas Mann sagen würde, ist ihm fremd. Ja, nicht zuletzt um der »Franconia« zu entkommen, war er nach Leipzig gewechselt, von wo er ihr einen hochmütigen Abschieds- und Austrittsbrief schrieb. Sie sei seiner noch nicht würdig, sinngemäß. Möge sich das bessern.
    Vielleicht hätte Friedrich Nietzsche nicht einmal die Bekanntschaft eines Schröter gemacht. Mit dem hatte Richard Wagner oft in Kintschys Schweizerhäuschen gesessen, in ebenjenem Café, das jetzt auch Nietzsches Lieblingscafé ist und in dem er erst wenige Stunden zuvor die Notiz gefunden hatte, dass Richard Wagner in der Schweiz sei. Hier hatte der Falschverortete einst durch jenen Schröter, der »nicht zu den eigentlichen Verzweifelten« 51 gehörte, seine erste Einführung in Heine erhalten, von welchem sich der Siebzehnjährige fortan »eine gewisse frivole Eleganz des Ausdrucks« borgte.
    Mit solcher Eleganz kann man es wohl schaffen, zum Duell gefordert zu werden. Oder nein, im Falle Degelows war gar keine Heine’sche Provokation nötig gewesen. Der Vielsemestrige hatte seine Verehrung für eine junge Schauspielerin des Leipziger Theaters erklärt, nur kann ein Korpsstudent das nicht so schamlos direkt formulieren, weshalb er ihre Tugend lobte. Wagners Schwester Luise war auch Schauspielerin am Leipziger Theater, und der Bruder liebte Luise. Wie findest du meine Schwester?, hätte das 17-jährige
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