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Die Aldi-Welt

Die Aldi-Welt

Titel: Die Aldi-Welt
Autoren: Hannes Hintermeier
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Aus grundsätzlichen Erwägungen…
     
     
     
    Vor 150 Jahren erschien das Kommunistische Manifest der Herren Marx und Engels. Seither hat sich weltgeschichtlich einiges ereignet, das sich diesem Aufruf zu Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit verdankt. Abgesehen von diesen Nebenwirkungen der Schrift, ist vor allem ihr einleitender Satz vom Gespenst, das in Europa umgehe, zu einem Zitat-Klassiker geworden. Damals war das Gespenst des Kommunismus gemeint. Heute, nach einigen anderen Gespenstern, die auf -ismus enden, geht nun ein neues Gespenst um in Europa. Dieses hat ausnahmsweise nichts mit politischen Ideologien oder religiösem Fundamentalismus zu tun, sondern mit dem blanken Fressen und Gefressen werden. Es wuchert an vielen tausend Stellen in Deutschland, und sein Spinnennetz wird von Tag zu Tag feinmaschiger. An Entkommen ist nicht mehr zu denken. Längst hat es mit seinen Armen in andere Länder des alten Kontinents hinübergegriffen; und auch in der neuen Welt hat es sich erfolgreich niedergelassen. Und wie es sich für ein richtiges Gespenst gehört, ist es überall und nirgends. Kaum glaubt man es gesehen zu haben, ist es schon wieder verschwunden, hat es sich hinter den wohlbekannten Fassaden seiner spartanischen Tempel verborgen. Und doch hat das Gespenst eine Botschaft. Eine unmißverständliche, die sagt: Kauf bei mir, gib mir dein Geld, und du wirst es nicht bereuen. Eine Frohbotschaft? Das wird sich weisen.
    Das Gespenst hört, wir wissen es längst, auf den Namen Aldi. Und wer glaubt, hinter diesen vier harmlosen Buchstaben mit dem verniedlichenden End-»i« verberge sich eine Discountkette mit wirklich billigen Angeboten, der hat recht und geht doch weit in die Irre. Aldi ist in Zeiten, in denen der Ruf nach der Nation wieder gilt, vielleicht der verkannte Einheitsstifter der Deutschen. Was vereint die Europäer neben ihrem Glauben an eine gemeinsame Geschichte und ein hehres Bildungsideal? Nicht die Sprache, noch nicht die Währung – es sind die Konsumgewohnheiten. Einkaufen müssen wir alle. Es ist der Supermarkt, der uns gleichmacht. Supermärkte sind überall gleich. Und doch gibt es einen, der gleicher ist als alle anderen. Kein anderer Lebensmittelhändler hat einen so hohen Bekanntheitsgrad wie Aldi, keiner wird in solcher Regelmäßigkeit von drei Vierteln der Bevölkerung aufgesucht. Noch gibt es Unbelehrbare: Sie sollen zu nichts überredet werden, denn Aldi steht mit allen seinen Klippen und Schroffen ganz für sich als ein Monument des bis ins letzte Glied vollstreckten Kapitalismus.
    Aber Aldi ist, welch schöne Dialektik offenbart sich hier, in sich selbst zerrissen, und ist nur dann ganz bei sich, wenn es, vereint wie Yin und Yang, eine Einheit bildet: Aldi Nord und Aldi Süd, zwei sehr gleiche Brüder. »Immer das eine gegenüber dem anderen«, sagt der portugiesische Dichter Fernando Pessoa, immer Theo im Norden und Karl im Süden. Und doch fast immer das gleiche; denn jeder für sich wäre nicht das, was sie zusammen erreicht haben: Sie sind die reichsten Männer der Republik. Entgegen den Gepflogenheiten unserer Mediendemokratie haben sie es geschafft, unsichtbar zu bleiben. Niemand außer dem engsten Familienclan kennt sie wirklich. Und wenn doch, haben sich die Vertrauten stets penibel gehütet, die Albrechtsche Schweigewolke zu verlassen. Das ist bedauerlich; denn als Figuren der Nachkriegsgeschichte hätten sie einiges beizutragen zur Sozialgeschichte Deutschlands nach 1945, aber davon wollen sie nichts wissen. Ihr Reich ist längst bestellt, auch wenn dazu eine (allerdings durchlässige) Demarkationslinie nötig war. Karl und Theo Albrecht haben eine gespaltene Republik geschaffen, indem sie auf ihrem Weg vom Kleinkrämer zum Geheimniskrämer Deutschland entlang einer imaginären Linie geteilt haben. Diese beginnt auf der Höhe von Essen im Westen und zieht sich bis Görlitz an der polnischen Grenze nach Osten.
    Und all die Aldi-Märkte, die die Landkarte sprenkeln, und all die Auslandsaktivitäten bescheren den verschwiegenen Brüdern einen Umsatz, den sie nicht preisgeben, den Fachleute jedoch mit 70 Milliarden Mark pro Jahr beziffern. Tendenz noch immer steigend. Jede vierte Mark, die in Deutschland für Lebensmittel ausgegeben wird, wandert in die Kassen der Gebrüder Albrecht. Das Ganze in äußerster Diskretion. Keine Konzernbilanz hat je das kompliziert verschachtelte Unternehmen verlassen, kein Interview, keine Stellungnahme ist aus den Konzernzentralen in
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