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Zu keinem ein Wort

Titel: Zu keinem ein Wort
Autoren: Lutz van Dijk
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DER VERLIEBTE NAZI
    Musik, tanzende Menschen, irgendwo in einer kleinen Stadt in Osteuropa. Es ist ein besonderes Fest: eine Hochzeit. Eine jüdische Hochzeit mit Rabbi und verschleierter Braut und zertretenem Glas unter einem Tuch. Alle Blicke sind auf das junge Brautpaar gerichtet. Wie sehen sie aus? Ob sie glücklich sind? Oder ist es wieder nur eine Ehe, die die Eltern wollten, eine lang verabredete Sache aus praktischen Beweggründen, bei der das Mädchen und der Junge kaum nach ihrer Meinung, geschweige denn Liebe, gefragt worden sind?
    Es ist so lange her, dieses Fest. Von denen, die da tanzten und lachten und durcheinander redeten, lebt kein Einziger mehr. Aber ohne diesen Tag hätte es mich nicht gegeben. Ohne diesen Tag wäre die Geschichte, die ich erzählen möchte, nicht geschehen. Und obwohl es auch eine dramatische und gefährliche und ernste und traurige Geschichte ist, beginnt sie doch mit etwas ganz Sanftem und Zärtlichem: mit Liebe. Oder besser gesagt, mit dem Anfang einer Liebe. Der ersten Verliebtheit.
    Ob das Brautpaar verliebt war? Keine Ahnung. Die waren so aufgeregt, dass es keiner von den angereisten
Verwandten genau herausbekam. Aber auf der Hochzeit waren noch zwei andere junge Leute, die einander hier begegneten und den ganzen Tag kaum noch die Blicke voneinander abwenden konnten. Die irgendwann gar nicht mehr auf das Brautpaar achteten, sondern nur noch darauf, wie sie zueinander kommen könnten, ohne dass sofort darüber getratscht würde. Sie wollten sich um Himmels willen nicht wieder aus den Augen verlieren, ohne wenigstens ein paar persönliche Worte gewechselt zu haben.
    Der junge Mann war höchstens Mitte zwanzig, sah gut aus, hatte eine schlanke, sportliche Figur und trug einen modern rasierten Schnurrbart. Seine dunklen Haare waren glatt zurückgekämmt. Aufgefallen waren Regina zuerst seine vollen, weichen Lippen. Sie mochte keine Männer, die so militärisch verkniffen in die Welt schauten. Bei ihm aber glaubte sie, etwas Mutiges und Unangepasstes zu entdecken. Das gefiel ihr. Bislang wusste sie nur, dass er der älteste Bruder der Braut war.
    Sie selbst war gerade achtzehn geworden. Zweimal schon hatte sie in ihrem bisherigen Leben geglaubt, verliebt zu sein. Aber es hatte sich beide Male als Irrtum herausgestellt. Eigentlich hatte sie gar nicht genau gewusst, wie das war, verliebt zu sein. Niemand sprach offen darüber. Angeblich geschah es einfach so - und für manche bedeutete es dann das größte Glück und für andere das größte Unglück. Sie hoffte natürlich, dass sie zur ersten Gruppe der glücklich Verliebten gehören möge. Deshalb hatte sie sich jedes Mal gefragt: Kann ich mit dem Mann wirklich glücklich werden?
Darüber hatte sie sich dann so lange den Kopf zerbrochen, bis sie am Ende dachte, dass es wohl nicht Liebe sein könne, wenn man so schrecklich darüber nachgrübeln müsse.
    Bei dem Bruder der Braut, von dem sie bisher so gut wie gar nichts wusste, dachte sie überhaupt nicht. Sie wollte ihn am liebsten immer nur anschauen. Und ihm nahe sein. Ihn vielleicht ein einziges Mal berühren. Einmal stieß ihre beste Freundin sie an und zischte ihr zu: »Ist dir schlecht? Du stehst nur rum und starrst vor dich hin.« Aber sie starrte gar nicht vor sich hin. Sie schaute, wenn auch so unauffällig wie möglich, unablässig zu dem jungen Mann hinüber.
    Und dann geschah es: Der junge Mann, der schon ein paar Mal vorsichtig, aber ohne zu lächeln, zurückgeschaut hatte, unterbrach plötzlich das Gepräch mit einem älteren kahlköpfigen Herrn und kam direkt auf sie zu. Als er unmittelbar vor ihr stand, deutete er eine Verbeugung an und sagte mit einer ungewöhnlich tiefen Stimme: »Darf ich Ihnen ein Getränk holen?«
    Regina schluckte und bekam kein Wort heraus. Sie schaute ihn an und schluckte erneut. Dann nahm sie all ihren Mut zusammen und antwortete: »Ich möchte lieber tanzen. Und Sie?«
    Sie tanzten den ganzen Abend. Geredet haben sie dabei nur wenig. Aber am nächsten Tag, als Regina mit ihrer Familie im Zug zurück nach Wien fahren musste, da wusste sie immerhin, dass er nicht Schneider werden wollte wie sein Vater und sein Großvater, sondern dass er am liebsten die Welt kennen lernen und in Berlin damit beginnen wollte. Während der langen Eisenbahnfahrt,
als die anderen, noch müde vom Feiern, in ihren Sitzen dösten,
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