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Nicht ohne dich

Nicht ohne dich

Titel: Nicht ohne dich
Autoren: Boje Verlag
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jeden von uns einen zweifelhaften Apfelsaft und für sich und mich auch noch Schnaps kaufte.
    »Den können wir jetzt vertragen«, sagte er.
    Nachdem ich den Schnaps getrunken hatte, ging es mir ein bisschen besser, obwohl er mir in der Kehle brannte. Auch der künstliche Apfelsaft schmeckte danach weniger ekelhaft. Ich brachte sogar ein bisschen was von dem Essen hinunter, das Frau Ulrich uns mitgegeben hatte.

Kapitel Achtundzwanzig
    U m viertel vor drei wurde unser Flug aufgerufen. Ich ging als Erste von uns dreien zum Passkontrollschalter.
    Als ich meinen gefälschten Ausweis hinüberreichte, begann mein Herz wieder zu rasen. Ich sagte mir: Du hast nichts zu befürchten. Nach dem Dokument bist du ein schwedisches Mädchen. Du hast nur Angst vor dem Fliegen, und davor, bei deinen Großeltern zu leben, die du kaum kennst. Aber unter dem prüfenden Blick des Polizisten hätte sich niemand wohlgefühlt. Wenn nun doch irgendwo Blut an mir klebte?
    Endlich wandte er sich dem Dokument zu, das er genauestens unter die Lupe nahm. Akribisch und übermäßig lange betrachtete er die verschiedenen Stempel und fuhr mit dem Daumen über die Perforation an der Unterseite. Hoffentlich war es eine gute Fälschung. Wenn nicht – nein, darüber wollte ich nicht nachdenken. Auf dem Fingernagel hatte er einen schwarzen Bluterguss, dessen Form an die Umrisse irgendeines Landes erinnerte.
    Fast erschrak ich, als er mir mit einem routinemäßigen Heil Hitler den Pass zurückgab. Ich wollte schon Heil Hitler entgegnen, doch dann fiel mir ein, dass ich ja Schwedin war. »Danke«, sagte ich und wartete dann, bis Emmi und Raffi die Prozedur ebenfalls überstanden hatten.
    Es ging alles gut. Sie kamen durch. Auch sie benutzten beide nicht den Hitlergruß. Dem Polizisten schien das egal zu sein. Anschließend wurde unser Gepäck durchsucht. Der Beamte, der sich Raffis Koffer vornahm, fand sein Skizzenbuch und blätterte es ausgiebig durch. »Sind Sie Architekt?«, fragte er Raffi.
    »Ich will einer werden«, sagte Raffi.
    »Und solche Sachen wollen Sie entwerfen?«, fragte der Beamte. »Dann ist es nur gut, dass Sie in Schweden arbeiten werden.« Er lachte ruppig.
    Wir gaben unser Gepäck auf und kletterten die Rampe zum Flugzeug hinauf. Wieder stieg mir die Mischung aus Rauch und dem Gestank verwesender, unbegrabener Leichen in die Nase, die über der Stadt hing. Auch Brenner war nun eine dieser Leichen. Ich fragte mich, wie lange es dauern würde, bis jemand in das Gebäude ging und ihn fand. Vielleicht würde es nie dazu kommen, weil er von einer weiteren Bombe begraben wurde. Und ich hatte ihn getötet. Ob Papa mich wohl noch lieb haben konnte, wenn er erfuhr, was ich getan hatte? Aber ich erinnerte mich an Karls Worte: »Ich habe gekämpft.« Karl hätte abgedrückt und Brenner getötet. Also würde Papa mir vielleicht auch vergeben.
    Als wir im Flugzeug saßen, legten wir die Sicherheitsgurte an und bugsierten Muffi in den Käfig, den die Fluggesellschaft für Hunde zur Verfügung stellte. Ihr gefiel das überhaupt nicht.
    Wir mussten ganz hinten sitzen, weil nur dort Platz für den Käfig war, aber wir hatten trotzdem auf beiden Seiten Fenster. Das Flugzeug war nur etwa halb voll, darum bekam Raffi einen Sitzplatz für sich allein, auf der anderen Seite des Ganges. Wie gute Geschwister hatten wir Emmi einen Fensterplatz überlassen. Dann rollte das Flugzeug, die Propeller wirbelten, und schließlich rasten wir das Rollfeld entlang und hoben ab. Wir flogen über unsere zerbombte Stadt und stiegen dabei immer höher. Berlin war ein Rasterbild aus Straßen, das an den Stellen, wo nur noch Ruinen standen, unscharf wirkte, als wäre jemand mit dem Radiergummi über das Bild gefahren.
    Irgendwo da unten war Mama. Ich hatte das Gefühl, durch ein Gummiband mit ihr verbunden zu sein, das sich, je höher wir stiegen, immer straffer zog und mir die Brust zuschnürte. Tante Edith fiel mir ein, und ich rief mir ins Gedächtnis, dass ich froh sein konnte, überhaupt zu wissen, wo Mama war. Aber es funktionierte nicht. Ich glaube nicht, dass irgendein Gedanke dieser Art jemals etwas bringt. Ich fühlte mich wegen Tante Edith nur umso schlechter. Raffi legte mir über den Gang hinweg brüderlich die Hand auf die Schulter. Ich sah ihn an und er flüsterte: »Sie wird es schon schaffen, Jenny.«
    »Danke«, flüsterte ich zurück und fühlte mich ein klein wenig besser, doch beim Anblick der Stadtgrenzen von Berlin, der Wälder und Seen Brandenburgs,
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