Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nicht ohne dich

Nicht ohne dich

Titel: Nicht ohne dich
Autoren: Boje Verlag
Vom Netzwerk:
wirkte, in mich auf. Raffi, formte ich mit den Lippen und hoffte dabei, dass Brenner nicht merkte, was ich tat. Ich liebe dich so sehr. Ich sah seine Lippen sich bewegen. Ich liebe dich auch, sagte er.
    Sie würden uns auseinanderreißen, wie sie Mama und mich auseinandergerissen hatten. Ich würde ihm nicht einmal einen Abschiedskuss geben können. Man würde ihn nach Polen schicken und vergasen.
    Die ganze Zeit musste ich denken: Warum ist Frau Ulrichs Auto nicht angesprungen? Und: Wir waren doch schon fast am Flughafen.
    »Links!«, kommandierte Brenner. Als wir um die Ecke bogen, versperrte uns ein Haufen aus Balken und Schutt den Weg. Staubwolken stiegen daraus auf.
    Brenner fluchte. »Scheiß Ami-Bomben. Wer weiß, wie viele tote Deutsche da drunterliegen.« Mit einer höhnischen Grimasse setzte er hinzu: »Ihr freut euch wahrscheinlich über diesen Anblick, stimmt’s?«
    Keiner von uns antwortete. Brenner zuckte mit den Schultern. »Na, müssen wir eben einen kleinen Umweg machen. Erste rechts, dalli!«
    Der Koffer hing schwer an meinem Arm und ich hatte Schmerzen bis in die Schulter. In der stauberfüllten Luft mussten wir alle husten, trotzdem hielt Brenner die Waffe stur auf uns gerichtet.
    Die nächste Straße war schon vor einiger Zeit zerstört worden. Wie üblich hatte man einen Pfad durch den Schutt gebahnt, aber auch darauf lagen Ziegelteile und Mauerwerk herum. Die leeren Fensterhöhlen schienen uns anzustarren. Ich stolperte über irgendetwas und wäre hingefallen, wenn Raffi mich nicht am Arm gepackt hätte, aber Brenner herrschte ihn an:
    »Lass die Finger von deiner Schlampe, Judenschwein!«
    »Jenny ist erschöpft«, sagte Raffi wütend. »Sie braucht eine Pause, sonst müssen Sie sie noch zur Polizeistation tragen.« Er starrte Brenner aus seinen blauen, arisch anmutenden Augen an. Vielleicht war es das, was wirkte, denn Brenner gab nach.
    »Na schön«, knurrte er. »Ein paar Minuten, mehr nicht.«
    Ich sank auf den Koffer. Muffi kuschelte sich an mich. Ich sah, dass Emmi Bernhard an ihr Gesicht drückte und mit ihm die Tränen abwischte, die ihr hinunterliefen.
    »Da haben wir also endlich Rafael Jakobi«, sagte Brenner. »Letztes Jahr bei der Durchsuchung hattet ihr ihn in dem Raum unter der Treppe, stimmt’s, Friedemann? Und du hast dich für oberschlau gehalten und mich reingelegt. Hast beim Verhör kein Wort verraten. Na, jetzt geht der Schuss nach hinten los. Ihr wart wohl auf dem Weg zum Flughafen, ihr drei? Eure Freunde, die Amerikaner, haben euch einen Strich durch die Rechnung gemacht.«
    Er kam ganz nah an mich heran und hielt mir seine Waffe ins Gesicht, und wieder überkam mich jenes Gefühl, mein Körper gehöre ihm, nicht mir. Nur ein kleiner Winkel in meinem Kopf war mir geblieben. Meine Muskeln spannten sich an, als wollten sie einen Schutzwall um mein in diesem Eckchen verstecktes wahres Selbst bilden.
    Er sagte: »Dieses Balg da ist auch jüdisch, was? Ich verstehe Leute wie dich und deine Familie nicht. Wo ihr doch Abschaum seid, warum verschwindet ihr nicht in die Kanalisation und macht es euch bei den Ratten gemütlich?«
    Als er von Ratten sprach, bemerkte ich, überlagert vom Rauch, den Gestank nach verwesenden Leichen. Ich musste würgen, erbrach mich aber nicht.
    »Übrigens, wo steckt eigentlich deine Mutter, Friedemann?«, wollte Brenner wissen. »Nein, du brauchst nichts zu erfinden, das kriegen wir noch früh genug aus dir raus.«
    Muffi bebte am ganzen Leib. Sie knurrte erneut, aber nur verhalten, und ich versetzte ihr einen harten Klaps, damit Brenner es nicht merkte. Ich musste unentwegt würgen wegen des Leichengestanks.
    Er sagte: »Letztes Mal war ich gezwungen, die weiche Tour zu fahren, Friedemann, weil du diesen stinkreichen Onkel hast, aber ich glaube kaum, dass er sich wegen einer auf frischer Tat ertappten Verbrecherin weit aus dem Fenster lehnen wird. Jetzt kriege ich alles aus dir raus. Wer hat euch eigentlich geholfen – was? Ich dachte, der Angriff ist vorbei.«
    Die Sirenen begannen erneut zu heulen.
    »Na schön«, sagte Brenner wütend. »Wir suchen uns einen Keller und warten die Entwarnung ab.«
    Ich hörte mich wimmern: »Ich will nicht.«
    »Jenny!«, sagte Raffi scharf. Ich hörte die Angst in seiner Stimme, aber noch lauter schallte in meinem Kopf die Stimme des Mädchens im Lager, das, mit dem Tod ringend, nach seiner Mutter gerufen hatte. Sie war mir in diesem Moment näher als Raffi oder Emmi oder Brenners Waffenlauf, der vor meinen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher