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Nicht ohne dich

Nicht ohne dich

Titel: Nicht ohne dich
Autoren: Boje Verlag
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begann ich mich zu fragen, ob wir wohl über das Lager fliegen würden. Ich dachte an Erna und Luise, die weiterhin angebrüllt, ausgehungert und mit Schlagstöcken traktiert wurden. Ich dachte an die Grendel und die Kerner und die Lagerleiterin. Ob sie wohl von Grund auf grausam waren und nur auf eine Gelegenheit gewartet hatten, das auch auszuleben? Ganz plötzlich war ich furchtbar müde.
    Wolkenfetzen schoben sich zwischen das Flugzeug und das Land. Die Maschine sackte ab und vibrierte. Muffi begann in ihrem Käfig zu bellen.
    »Was ist denn los?«, fragte Emmi, fast schon wieder den Tränen nahe.
    Die Stewardess beugte sich auf ihrem Sitz direkt hinter uns nach vorn und sagte beschwichtigend: »Nur ein paar Turbulenzen, nichts Beunruhigendes. So ist das immer, wenn wir durch Wolken aufsteigen.«
    Ich befahl Muffi, mit dem Bellen aufzuhören, und sie legte sich mit der Schnauze auf den Boden und bewies uns, wie geduldig sie unsere schlechte Behandlung ertrug.
    Die Stewardess stand auf, um uns Essen und Apfelsaftersatz, Tee und Kaffee zu servieren. Ich nahm die Getränke zu mir, konnte das Essen aber nicht anrühren. In meinem Sitz zurückgelehnt, schloss ich die Augen, und einen Moment später war ich eingeschlafen.
    Als ich wach wurde, wusste ich, dass viel Zeit vergangen war.
    »Geht’s dir besser?«, fragte Raffi über den Gang hinweg.
    Ich nickte. »Du hast zwei Stunden geschlafen«, sagte er. Emmi saß jetzt neben ihm.
    »Ich hab sie herübergehoben«, sagte er, »damit sie dich nicht stört. Du hast dich nicht geregt.« Er tätschelte mir brüderlich die Schulter. Ich wollte in seinen Armen sein.
    Ich sagte: »Wo sind wir?«
    »Wir sind schon über Schweden. Schau, keine Wolke am Himmel. Du kannst alles sehen.«
    Ich blickte aus dem Fenster und sah undeutlich eine Landschaft im Dämmerlicht und am Horizont eine Röte – die untergehende Sonne. Unten auf der Erde funkelten hie und da kleine Lichter.
    »Sie verdunkeln gar nicht«, stellte Raffi fest, als könnte er es nicht glauben. »Hier gibt es keine Luftangriffe zu fürchten.«
    Als wir über Stockholm in den Sinkflug gingen, sah die ganze Stadt aus wie ein Christbaum. Irgendwie schien mir das unsicher, wie schutzlos ausgeliefert.
    Wir passierten die schwedische Passkontrolle, der Beamte inspizierte unsere Pässe und sagte beim Zurückgeben: »Välkomna hem.« Seine Stimme war sehr freundlich, und ich verstand auch, was er sagte – es klang fast wie Deutsch: »Willkommen daheim.«
    Da ich nicht wusste, wie man auf Schwedisch danke sagt, lächelte und nickte ich bloß. Zu Hause fühlte ich mich zwar nicht, doch dann legte Raffi den Arm um mich.
    »Jenny«, sagte er, »wir sind frei.«

Nachwort
    I n seinem Buch The Righteous: The Unsung heroes of the Holocaust schätzt Martin Gilbert, dass von der jüdischen Bevölkerung vor dem Krieg zwar einhundertsiebzigtausend Personen entweder emigrierten oder getötet wurden, zweitausend aber auch in der Stadt versteckt überlebten. Einer von ihnen schrieb: »Wir werden niemals wissen, wie viele Berliner den Anstand und Mut besaßen, ihre jüdischen Mitbürger vor den Nazis zu retten – zwanzigtausend, dreißigtausend? Wir brauchen die Zahl nicht zu kennen, um dieser untypischen, bewundernswerten Minderheit unsere Ehrerbietung zu erweisen.« Die Charaktere in diesem Roman sind alle erfunden, aber ich habe ihn als kleinen Akt der Ehrerbietung angesichts der Tapferkeit dieser Leute verfasst.
    Die Evakuierung von Raffi, Jenny und Emmi wurde von der Schwedischen Victoriagemeinde organisiert, die im Kirchengebäude und in den Häusern von Sympathisanten Juden versteckte. Viele von ihnen konnten aus Deutschland herausgeschmuggelt werden. Von diesen Aktivitäten habe ich aus Leonard Gross’ Buch Versteckt. Wie Juden in Berlin die Nazi-Zeit überlebten erfahren. Agnes Hummel ist eine erfundene Figur, aber viele deutsche Quäker haben tatsächlich Juden geholfen und sie versteckt. Eine von ihnen hieß Elisabeth Abegg: Sie machte ihre kleine Wohnung zu einem Notlager und Treffpunkt für Juden, die untergetaucht waren. Sie teilte ihre Essensrationen mit ihnen und besorgte ihnen falsche Papiere. Später wurde sie von der Israelischen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem als Gerechte unter den Völkern ausgezeichnet, und die Stadt Berlin hat an dem Haus, in dem sie lebte, eine Gedenktafel angebracht. Einer der Menschen, denen sie geholfen hat, nannte sie »ein Licht in der Dunkelheit von Nazideutschland«.

Danksagung
    V
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