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Nicht ohne dich

Nicht ohne dich

Titel: Nicht ohne dich
Autoren: Boje Verlag
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ballte Luise wütend die Hand zur Faust.
    »Oh, natürlich«, entgegnete die Bäuerin rasch. »Ich bin sicher, Sie behandeln sie besser, als sie es verdienen.«
    Luise verdrehte die Augen. Ich tat es ihr nach, dann sah ich schnell weg, bevor die Kerner es mitbekam. Und fühlte mich ein wenig besser.
    »Diese kleinen Flittchen hier kommen aus dem Aufnahmeblock«, erklärte die Kerner. »Da bleiben sie erst mal sechs Monate zur Beobachtung. Die Neuen müssen Socken für die Soldaten stricken – für die meisten das erste Sinnvolle, was sie im Leben tun.«
    Sie grinste boshaft, und ich bemerkte, wie sich Luises Hand wieder zur Faust ballte.
    Die Kerner fuhr fort: »Gar nicht so schlecht, dass sie mal in die Landarbeit hineinschnuppern. Dazu werden wir die meisten später sowieso abstellen, die hoffnungslosen Fälle. Letzten Endes sind es nur ein paar wenige, mit denen wir vielleicht was anfangen können. Nur ein paar. Die schicken wir in die Rüstungsfabrik – bring die Schubkarre raus zum Misthaufen, 610, aber ein bisschen dalli!«
    Ich zog mir das Kopftuch wieder über die Haare, legte die Schaufel nieder, nahm die Griffe der Schubkarre und machte mich auf den Weg. Sie war fast zu schwer für mich und schwankte gefährlich hin und her, kurz dachte ich sogar, sie würde umkippen und alles herausfallen, aber ich schaffte es gerade noch.
    Die Bäuerin bedachte mich mit einem strengen Blick, als ich an ihr vorbeiging. Sie hatte ihr Mitleid für mich ausgeknipst. Und ich war fast froh darüber. Ich verabscheute sie für ihre Bemerkung darüber, wie mager ich war. Dass ich viel zu dünn war, wusste ich selbst, ich sah doch meine Arme und Beine, und vor zwei Wochen in Grendels Unterkunft hatte ich mein Gesicht im Spiegel angeschaut. Ein Gespenst hatte mir entgegengeblickt, mit riesigen Augen in dunklen Höhlen, einem spitzen, ausgemergelt schmalen Kinn und geschorenen Häftlingshaaren, die matt vor Schmutz und Fett waren.
    Die Grendel hatte gelacht, als ich vor meinem Spiegelbild zurückgezuckt war.
    Jetzt hasste ich die Bäuerin, wie ich die Kerner und die Grendel hasste. Der Hass loderte so heftig in mir, dass mir davon fast warm wurde. Ich dachte: Tief drinnen in dieser halb verhungerten, verängstigten Sklavin, die diese Mistweiber in mir sehen, steckt eben doch ein Mädchen. Nicht Nummer 610. Sondern Jenny Friedemann. Ich rief mir meine Familie und Freunde ins Gedächtnis, die mich liebten, und einen Jungen, der mich ebenfalls geliebt hatte. Der mir gesagt hatte, dass ich schön sei. Aber diese Erinnerung schob ich beiseite, sie war zu gefährlich.
    Plötzlich vernahm ich ein Motorengeräusch. Es klang nach einem Auto. Solange die Kerner an der Kuhstalltür Wache stand und mit ihrem lederbehandschuhten Finger über den Knüppel strich, konnte ich mich allerdings nicht länger hier herumdrücken, um mehr zu sehen. Ich leerte die Schubkarre auf den Misthaufen und schob sie zurück in den Stall.
    »Lass die Tür auf, Mädchen«, befahl die Kerner.
    Als ich die Schaufel wieder hochhob, hörte ich das Auto näher kommen. Mit dem Bauernhof konnte es nichts zu tun haben, denn die Bäuerin wirkte überrascht. Wieder begegnete ich Luises Blick und einen kurzen Augenblick teilten wir unsere Angst. Wenn etwas Ungewöhnliches passierte, bedeutete das für uns normalerweise schlechte Nachrichten. Ich wusste, dass es allen so ging wie mir, wir lauschten, horchten, wie der Motor erstarb und sich eine Autotür öffnete, und hielten den Atem an.
    Es war die Grendel, das erkannte ich an der Art, wie sie über den gepflasterten Hof marschierte. Im Lager lernte man rasch, die Aufseherinnen zu unterscheiden, sie waren immer da, beobachteten uns, schlugen uns, schrien uns an. Nun trat sie durch die offene Tür, der Knüppel baumelte an ihrem Gürtel. Die Kerner war brünett und von eckiger, knochiger Statur. Die Grendel dagegen hatte blonde Haare und unter ihrer Uniform ließen sich Kurven erahnen. Man hätte sie als hübsch bezeichnen können, wenn man nicht wusste, was wir über sie wussten.
    »610!«, bellte sie. »Stell deine Schaufel in die Ecke und komm mit!«
    Mir schnürte sich die Kehle zu, als hätte sich von hinten eine Schlinge um meinen Hals gelegt, aber ich gehorchte. Unverzüglich stellte ich die Schaufel beiseite und folgte der Grendel nach draußen. Im Vorbeigehen bemerkte ich, dass mir die Bäuerin mit leerem Blick nachstarrte, sie glotzte wie eine ihrer Kühe. Ein Hauch von Hoffnung regte sich in mir, doch ich war zu
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