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Das Vermächtnis der Montignacs

Das Vermächtnis der Montignacs

Titel: Das Vermächtnis der Montignacs
Autoren: John Boyne
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KAPITEL 1
1
    Vor vielen Jahren, als Leutnant in der Armee und direkt außerhalb von Paris stationiert, traf Charles Richards auf einen Rekruten, einen Jungen von etwa achtzehn Jahren, der allein auf seiner Pritsche im Schlafsaal saß, den Kopf gesenkt, und lautlos weinte. Nach kurzer Befragung stellte sich heraus, dass er seine Familie und sein Zuhause vermisste, der Armee ohnehin nie hatte beitreten wollen, sondern von seinem Vater, einem Veteranen, dazu gezwungen worden war. Die Vorstellung eines weiteren Appells am frühen Morgen, gefolgt von einem Zwanzig-Meilen-Marsch über unwegsames Gelände und dabei immerzu feindlichen Angriffen ausweichen zu müssen, hatte ihn zu einem emotionalen Wrack gemacht.
    Â»Steh auf«, sagte Richards, winkte den Jungen mit einem Fingerzeig hoch und streifte seine schweren Lederhandschuhe ab. Der Junge stand auf. »Wie heißt du?«, fragte Richards.
    Â»William Lacey, Sir.« Der Junge wischte sich über die Augen und war außerstande, dem Offizier ins Gesicht zu sehen. »Bill.«
    Richards umschloss die Finger eines Handschuhs mit festem Griff und schlug dem Jungen mit dem Leder zweimal ins Gesicht, ein Mal auf die linke und ein Mal auf die rechte Wange, und ließ, wie nach einer jähen Explosion, auf der sonst blassen Haut rot erblühte Flecke zurück. »Soldaten«, erklärte er dem konsternierten Rekruten, »weinen nicht. Nie.«
    Folglich überkam ihn ein Gefühl leichter Verwunderung, als er 1936 an einem schönen Junimorgen in der achten Reihe einer Privatkapelle der Westminster Abbey saß und feststellte, dass hinter seinen Augen Tränen darauf drängten, hervorzuschießen, während Owen Montignac zum Schluss seiner Lobrede über seinen jüngst verstorbenen Onkel Peter kam, einen Mann, den Richards nie sonderlich gemocht, den er, genau genommen, für kaum mehr als einen Halunken und Scharlatan gehalten hatte. Richards hatte in seinem Leben an etlichen Beerdigungen teilgenommen, doch jetzt im fortgeschrittenen Alter bedrückte ihn die Erkenntnis, dass die Abstände zwischen ihnen kürzer und kürzer wurden. Aber nie hatte er einen Sohn erlebt, der seinen Gefühlen für den verblichenen Vater Ausdruck verlieh, geschweige denn einen Neffen, der seinen Schmerz über einen verstorbenen Onkel so redegewandt und bewegend vortrug, wie Owen Montignac es gerade getan hatte.
    Â»Verdammt nobel«, murmelte er kaum hörbar, als Montignac in die erste Bankreihe zurückkehrte und Richards aus der Distanz noch dessen außergewöhnlich weißen Haarschopf sah. Um seinen Tränen Einhalt zu gebieten, drückte er verstohlen mit den Zeigefingern auf seine Augenwinkel. »Verdammt noble Rede.«
    Später stand er nur wenige Fuß von dem offenen Grab entfernt, diesem hungrigen Maul, dem die Sargträger sich gemessenen Schritts näherten, roch die frisch umgegrabene Erde und hielt in der Menge der versammelten Trauergäste nach Montignac Ausschau, denn mit einem Mal drängte es ihn, die Aufmerksamkeit des jüngeren Mannes zu erregen und ihm stumm Beistand zu leisten.
    Erst als der Sarg hinuntergelassen wurde, erkannte er, dass der Gesuchte einer der Sargträger war. Der Anblick dieses gut aussehenden jungen Mannes, der den Leichnam seines Onkels in die feuchte Erde sinken ließ, überwältigte Richards nahezu, und er musste krampfhaft schlucken und husten, um Haltung zu bewahren. Er tastete nach rechts und umschloss die Hand seiner Frau. Überrascht spürte Katherine Richards diese seltene Berührung, die darüber hinaus mit einem sanften, betont liebevollen Händedruck einherging, was noch erstaunlicher war, sodass sie ihrerseits um Fassung rang, ehe sie sich umwandte, um ihren Mann anzulächeln.
    Fünfzehn Fuß von ihnen entfernt stand Margaret Richmond, die ihre Gefühle gern zur Schau stellte. Sie bebte am ganzen Leib und drückte ein Taschentuch auf ihre Augen, um die Tränenflut aufzuhalten, denn gerade wurde der Mann, der achtundzwanzig Jahre lang ihr Arbeitgeber gewesen war, zur ewigen Ruhe gebettet. Peter Montignacs Tochter Stella stand an ihrer Seite, hoch aufgerichtet und gefasst, das blasse Gesicht frei von Tränenspuren. Dennoch wirkte sie mitgenommen, so sehr, dass man fürchten musste, die Kraft, die es sie kostete, nicht zu weinen, könnte sie an den Rand einer Ohnmacht führen.
    Zu diesen beiden Frauen, seiner alten Kinderfrau und
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