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Nicht ohne dich

Nicht ohne dich

Titel: Nicht ohne dich
Autoren: Boje Verlag
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verängstigt, um weiter darauf zu achten.
    Im Hof stand ein großes graues Auto. Die Grendel öffnete die hintere Tür, schob mich hinein und setzte sich neben mich. Der Fahrer ließ den Motor an und wir rumpelten über den Feldweg davon.
    Ich griff nach dem ledernen Halteriemen, der vom Dach baumelte, und hielt mich daran fest. Die Grendel saß so dicht neben mir, dass ich ihren Schweiß roch und das billige Parfüm, mit dem sie ihn zu überdecken versuchte. Als sie mir einen kalten Blick zuwarf, erstarb der Hoffnungsfunke in mir.
    Ich starrte aus dem Fenster. Die Felder und Bäume verschwammen vor meinen Augen. Wie dumm war ich doch gewesen zu glauben, ich könnte sie dazu bringen, mir zu helfen. Nur weil ich eine englische Großmutter hatte, nur weil ich ihr eine Geschichte über die Beziehungen meiner Familie aufgetischt hatte, nur weil Deutschland dabei war, den Krieg zu verlieren – ich war mir so schlau vorgekommen, und dabei musste sie sich die ganze Zeit über mich kaputtgelacht haben.
    Ich konnte mir genau vorstellen, was sie mit meinem Brief an Tante Grete gemacht hatte. Sie hatte ihn sofort an die Lagerleiterin weitergegeben und die hatte ihn gelesen. All die Dinge, die ich über das Lager geschrieben hatte. Dass ich meine Tante gebeten hatte, mich rauszuholen. Und es war nur logisch, dass sie bis heute gewartet hatten, um zuzuschlagen. Bis ich meine Rolle in ihrem Puppentheater erfüllt hatte.
    Das Auto bog vom Feldweg ab. Wie weit war es bis zum Lager? Zehn Kilometer? Sie würden mich töten. Sie töteten gern Menschen dort. Letzten Monat hatten sie ein Mädchen umgebracht, das fliehen wollte.
    Ich stemmte die Hacken in den Boden, als könnte ich dadurch das Auto bremsen, langsamer machen, zum Anhalten bringen. Meine Hand hielt sich krampfhaft am Lederriemen fest, ich glaubte ihn nie wieder loslassen zu können. Ich war nur noch ein Häufchen Elend, jede Faser angespannt und voller Todesangst. Eine Stimme in mir jammerte unablässig: Helft mir, bitte, warum hilft mir denn keiner? Ich will zu meiner Mama.
    Das waren die Worte des getöteten Mädchens gewesen, das hatte sie laut herausgeschrien, bevor sie sie umgebracht hatten. Jetzt war ich an der Reihe. Sie würden die Hunde auf mich hetzen, dann würden sie mir mit ihren Knüppeln die Knochen zerschlagen und mich an einen Pfahl binden, um mich langsam verbluten zu lassen. Außer, die Leiterin hatte etwas anderes mit mir vor. Vielleicht noch etwas Schlimmeres.
    Als das Auto um eine Kurve bog, wurde ich gegen die Grendel geschleudert. Sie versetzte mir einen Schlag und stieß mich mit dem Knüppel zurück. Ich drückte mich an die Autotür. Sie war natürlich verriegelt. Rausspringen ging nicht. Könnte ich mich doch nur klein machen, dachte ich, winzig klein wie eine Maus, dann fände ich schon irgendwo in der Karosserie ein Loch, um mich zu verkriechen, und sie würde mich niemals finden, keiner von ihnen würde mich je finden. Sofort schalt ich mich eine Närrin, weil ich mir so etwas Unmögliches ausmalte. Ich war in jeder Hinsicht eine Närrin. Außerdem musste ich aufs Klo, ich würde mir gleich in die Hosen machen.
    »Jenny, du hast es wenigstens versucht«, hörte ich Papas Stimme, als wäre er bei mir.
    Ich würde Papa nie wiedersehen, mich nicht einmal von ihm verabschieden können, auch von Mama nicht. Oder von Raffi – aber nein, ich durfte mich nicht dazu hinreißen lassen, an Raffi zu denken.
    Das Auto stoppte. Die Grendel umrundete es, kam zu meiner Tür und entriegelte sie.
    Ein bleigrauer, düsterer Himmel erstreckte sich über den gedrungenen, hässlichen Lagerbaracken und der Wind wehte mir einen Graupelschauer ins Gesicht. Wir befanden uns außerhalb des Zauns. Ich stolperte in meinen klobigen Holzschuhen voran.
    Die Grendel schlug mir mit dem Knüppel von hinten auf den Schenkel.
    »Was fällt dir ein?«, fuhr sie mich an. »Trödle nicht herum wie eine Schwachsinnige.«
    Wir steuerten den Block an, in dem sich das Büro der Lagerleiterin befinden musste. Die Grendel klopfte. Keine Antwort. Die Grendel runzelte die Stirn. Dann kam eine Frau mit einem Stapel brauner Akten aus einer Nebentür. Sie trug eine Hornbrille und hatte die Haare streng zurückgekämmt. Eine Sekretärin.
    Sie schien nicht überrascht, uns zu sehen. »Oh«, sagte sie. »Sie musste weg. Sie können das Mädchen in die Arrestzelle bringen, bis sie zurückkommt.«
    Die Fenster in der engen Arrestzelle waren vergittert, es gab eine hölzerne Pritsche zum Sitzen
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