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Nicht ohne dich

Nicht ohne dich

Titel: Nicht ohne dich
Autoren: Boje Verlag
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und einen nach Chlor stinkenden Eimer, den ich sofort benutzte. Während ich pinkelte, kamen die Erinnerungen an Raffi zurück, jene, die ich tief in mir versiegelt hatte, damit sie nicht hervorsprudelten, wenn mich die Gestapo verhörte.
    Nein , sagte ich mir. Ich muss an die anderen denken. An Papa und Mama und Karl und Paula. Und an Muffi. Um Raffis Bild zu vertreiben, rief ich mir meinen Hund ins Gedächtnis, mit seinen schwarzen Zotteln, zwischen denen nur die glänzenden Knopfaugen und die rosarote Zunge hervorlugten. Aber es funktionierte nicht, Raffi blieb präsent und sah mich mit seinen graublauen Augen an, fragend, unverwandt. Ich spürte, wie seine Finger mit meinen spielten. Ich hörte seine Stimme, hörte ihn »Jenny« sagen.
    Ich sehnte mich so sehr nach ihm, danach, sein Gesicht in meine Hände zu nehmen und zu streicheln. Ich wollte ihn küssen und spüren, wie sich sein Körper an meinen presste. Ich antwortete ihm in Gedanken: Oh Raffi, Raffi, Raffi .

Kapitel Eins
    Berlin-Charlottenburg: Oktober bis November 1935
    E s war ein windiger Oktobertag. Ich war ein kleines achtjähriges Mädchen, Raffi war zehn. Mit einer Stinkwut im Bauch stapfte ich die Hintertreppe hinunter in den Hof unseres Wohnblocks. Karl war mit seinem Freund Fritz unterwegs. Mama half Papa unten in der Werkstatt, und unser Hausmädchen Katrin ließ mich keinen Kuchen backen, weil sie die Küche putzen wollte.
    Aber meine Laune besserte sich, als ich unten im Hof Raffi sah und er mich angrinste. Wenn Raffi einen angrinste, musste man einfach lachen, sogar wenn man ihn gerade noch hauen wollte. Er meinte, das funktioniere sogar bei wütenden Lehrern, und ich glaubte ihm.
    »Kommst du mit Rad fahren?«, fragte er.
    Wir holten unsere Fahrräder aus dem Schuppen im Hof und schoben sie durch die Passage zwischen den Geschäften unserer Eltern auf die Straße.
    Charlottenburg war damals eine saubere, freundliche Gegend mit hell getünchten fünfgeschossigen Wohnhäusern. An jenem Tag war gerade die Straße frisch gefegt und mit Wasser abgespritzt worden. Der Wind riss die gelben Blätter von den Bäumen und ließ sie in schrägen Winkeln auf den Boden trudeln, wo sie auf der nassen Straße kleben blieben. Die Trambahn fuhr vorbei und man konnte durch alle Scheiben ins Innere sehen; es war noch nicht nötig, sie zu verdunkeln, weil ja noch kein Krieg herrschte.
    Raffi radelte davon, seine hellen Haare glänzten in der Sonne und seine Jackenschöße flatterten im Fahrtwind wie zwei graue Stoffflügel. »Komm schon!«, rief er. »Es sind deutsche Straßenmeisterschaften und wir führen das Feld an!«
    Ich stellte den Fuß auf den Boden, stieß mich ab und trat, um ihn einzuholen, so kräftig ich konnte in die Pedale. Wir fuhren die Straße rauf und runter und steuerten dabei die ordentlichen Blätterhaufen an, die die Straßenkehrer zum Einsammeln aufgehäuft hatten. Wenn wir durchsausten, raschelte es und Staub und Blätter stoben auf.
    Plötzlich hielt Raffi so abrupt an, dass ich beim Bremsen fast vom Rad fiel. »Mama hat einen Apfelkuchen gebacken«, sagte er. »Der ist jetzt bestimmt fertig. Lass uns nach Hause fahren und ihn essen.«
    Im Hinterhof, wo ich mein Fahrrad abstellte, trat er neben mich und fragte: »Hast du schon mal einen Jungen geküsst?«
    Auf einmal war ich verlegen. »Ich habe Karl geküsst«, antwortete ich.
    »So doch nicht«, meinte er verächtlich. »Der ist doch dein Bruder.«
    Eigentlich wusste ich ja, was er meinte.
    »Willst du mich küssen?«, fragte er. »Um zu sehen, wie das ist?«
    Anstatt einer Antwort hob ich den Kopf, und er legte seine Arme um mich und zog mich so fest an sich, dass ich kaum noch Luft bekam. Dann drückte er mir einen Kuss auf meine zusammengekniffenen Lippen.
    »Hat es dir gefallen?«, fragte er, als er mich losließ.
    »Nicht besonders«, entgegnete ich. Das war gelogen. Es hatte sich gut angefühlt und jetzt war ich etwas verwirrt.
    »Vielleicht solltest du noch ein bisschen üben«, fügte ich hinzu.
    »Oh«, sagte er. Dabei wirkte er so niedergeschlagen, dass ich schon einwenden wollte, es habe mir doch gefallen. Aber da hörte ich, wie jemand näher kam. Es war Katrin.
    »Komm ins Haus«, sagte sie. »Deine Eltern möchten dich sehen.«
    Ihre Stimme klang erschreckt und zitterte. Ich begriff gar nichts. Ohne ein Wort zu Raffi, der nur dastand und Katrin anstarrte, zog sie mich in Richtung Werkstatt.
    Meine Eltern waren nicht sauer, aber Papa wirkte bekümmert und sichtlich
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