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Elsa ungeheuer (German Edition)

Elsa ungeheuer (German Edition)

Titel: Elsa ungeheuer (German Edition)
Autoren: Astrid Rosenfeld
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    Für manche Menschen scheint die Erde einfach nicht der rechte Ort zu sein, und meine Mutter Hanna war so ein Mensch.
    In dem kleinen oberpfälzischen Dorf, in dem wir lebten, betrachtete man die Sachen nüchterner und nannte sie einfach eine Verrückte. Natürlich äußerte man dergleichen nur hinter vorgehaltener Hand. Aber die vorgehaltene Hand war nicht mehr als eine Geste. Die Worte drangen laut und deutlich an unsere Ohren.
    Mit sechzehn hatte Hanna Stimmen gehört. Mit siebzehn durfte sie die Psychiatrie wieder verlassen und mit achtzehn auch die Neuroleptika absetzen. Übrig blieb eine grüne Mütze, die ein Arzt ihr geschenkt hatte. Auch noch zwölf Jahre später thronte sie Sommer wie Winter auf Hannas Haupt. Ein Talisman.
    Vor elf Tagen verschwand die grüne Mütze und Hanna Brauer, geborene van Dohl, zog sich eine rosa Unterhose über den Kopf und sprang vom Balkon.
    Mein Vater Randolph Brauer vermietete vierzehn Fremdenzimmer, die schönsten im Ort. Unser Haus war fast so etwas wie ein Hotel.
    Zum Haus gehörten eine Scheune, ein Stall, eine Koppel, die drei Ponys beherbergte, und ein Garten mit Gemüsebeeten, an dessen äußerem Rand der Mühlbach floss. Eine kleine Brücke, bestehend aus drei dunkelbraunen Holzbrettern und einem wackligen Geländer, spannte sich über den 1,50   Meter breiten Bach und verband unseren Garten mit der Hauptstraße.
    Im Herbst und im Winter arbeitete mein Vater in der Kartoffelchips-Fabrik, die auf halber Strecke zwischen Dorf und Stadt lag. Im Frühling reisten die ersten Gäste an, und im Sommer platzte unser Haus aus allen Nähten.
    Vor vielen Jahren hatten auch Hanna van Dohl und ihr Vater die Sommerferien bei uns verbracht. Herr van Dohl fuhr Ende August zurück nach Den Haag, Hanna jedoch blieb in der Oberpfalz und heiratete Randolph Brauer.
    Manchmal sperrte sich Hanna tagelang in ihr Schlafzimmer ein und weinte.
    Manchmal überkam sie der Drang, seltsame Dinge zu tun, etwa nackt auf der Brücke zu stehen und unreifes Gemüse in den Mühlbach zu schmeißen. Sie hasste die Ponys und liebte den Esel. Bevor meine Eltern heirateten, hatten die vier Tiere zusammen in der Koppel gelebt, aber Hanna glaubte, dass die Ponys den Esel quälen würden, und bestand darauf, ihn ins Haus zu holen.
    Randolph Brauer war ein bodenständiger Fast-Hotelier und Saisonarbeiter, aber mehr als alles andere war er Hannas Mann, und so bekam der Esel ein Zimmer im Erdgeschoss.
    Das war noch vor unserer Geburt gewesen. Für meinen älteren Bruder Lorenz und mich war es das Normalste der Welt, dass ein Esel im Haus wohnte. Und niemals hätten wir die Geschichten, die unsere Mutter über die schrecklichen Ponys erzählte, in Zweifel gezogen.
    »Sie mögen ihn nicht, weil er anders ist. Als der Esel noch bei ihnen leben musste, haben sie ihn gezwickt, die ganze Nacht. Mit den Zähnen. Wenn er trotz der Schmerzen einmal eingeschlafen ist, haben die Ponys ihm furchtbare Dinge ins Ohr geflüstert und sie in seine Träume geschickt.«
    »Was für furchtbare Dinge?«
    »Hunde, die nur aus Knochen bestehen und einem bei lebendigem Leib die Nieren rausreißen.«
    Oft überlegte mein Vater, ihr zuliebe die drei Tiere abzuschieben. Aber in dem bebilderten Prospekt des hiesigen Tourismusbüros pries man unser Haus als »Ponyhof Brauer« an. Viele Familien mit Kindern verbrachten tatsächlich einzig und allein wegen der zwei braunen und des einen schwarzen Ponys ihre Ferien bei uns.
    Hannas toter Körper wurde nach Den Haag transportiert. Seit ihrer Geburt wartete dort in der Familiengruft der van Dohls ein Platz auf sie. Mein Vater fuhr mit dem Zug hinterher und ließ Lorenz und mich in der Obhut unserer Haushälterin Frau Kratzler und unseres Dauergastes Herr Murmelstein zurück.
    So wie in anderen Familien hässliche Kuckucksuhren von Generation zu Generation weitergegeben werden und niemand es wagt, das Erbstück trotz seiner Scheußlichkeit zu entsorgen, wurde bei uns Frau Kratzler durchgereicht. Wann Frau Kratzler in den Besitz der Brauers übergegangen war, wusste keiner so genau. Es lebte niemand mehr, der sich an eine Zeit ohne sie erinnern konnte. Frau Kratzler selbst hüllte sich in Schweigen. Ich glaube, einfach nur, um sich interessant zu machen.
    Lorenz und ich vermuteten, dass sie eine der ältesten Frauen, wenn nicht sogar die älteste Frau der Welt war. Sollten wir sie eines Tages erben, dann würden wir sie an einen Zirkus oder ein Museum verkaufen.
    Als wir Frau Kratzler diesen
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