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Unsichtbar

Unsichtbar

Titel: Unsichtbar
Autoren: Paul Auster
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Teil I

    Im Frühjahr 1967 gab ich ihm zum ersten Mal die Hand. Ich war damals im zweiten Jahr an der Columbia, ein ahnungsloser junger Student mit Lust auf Bücher, und gab mich dem Glauben (oder der Einbildung) hin, eines Tages würde ich gut genug sein, mich einen Dichter nennen zu können, und da ich Gedichte las, hatte ich seinen Namensvetter in Dantes Hölle bereits kennengelernt, einen Toten, der durch die letzten Zeilen des achtundzwanzigsten Gesangs des Inferno geistert. Bertran de Born, der provenzalische Dichter aus dem zwölften Jahrhundert, der sein abgeschnittenes Haupt an den Haaren trägt - es schwankt hin und her wie eine Laterne -, gewiss eines der groteskesten Bilder in diesem buchlangen Katalog von Halluzinationen und Folterqualen. Dante war ein treuer Verteidiger von de Borns Schriften, verurteilte ihn jedoch zu ewiger Verdammnis, weil er Prinz Heinrich geraten hatte, sich gegen seinen Vater, König Heinrich den Zweiten, zu erheben, und weil de Born Vater und Sohn entzweit und zu Feinden gemacht hatte, bestand Dantes sinnreiche Strafe darin, de Born mit sich selbst zu entzweien. Daher der enthauptete Körper in der Unterwelt, der den Reisenden aus Florenz klagend fragt, ob er sich eine grausamere Qual als diese vorstellen könne.
    Als er seinen Namen nannte, Rudolf Born, musste ich sofort an den Dichter denken. Irgendeine Verwandtschaft mit Bertran?, fragte ich.
    Ah, erwiderte er, der arme Kerl, der seinen Kopf verloren hat. Möglich, aber wohl leider nicht wahrscheinlich. Mir fehlt das de. Dazu muss man von Adel sein, und die traurige Wahrheit ist, dass ich alles andere als ein Adliger bin.
    Ich kann mich nicht erinnern, warum ich dort war. Jemand muss mich gebeten haben mitzukommen, aber wer das war, ist meinem Gedächtnis längst entschwunden. Ich erinnere mich nicht einmal mehr, wo die Party stattfand - uptown oder downtown, in einer Wohnung oder in einem Loft -, oder aus welchen Gründen ich die Einladung überhaupt angenommen hatte, denn damals pflegte ich größere Menschenansammlungen zu meiden, abgestoßen vom Lärm der schwatzenden Menge, verlegen ob der Schüchternheit, die mich in Gegenwart von Leuten überkam, die ich nicht kannte. An diesem Abend aber sagte ich unerklärlicherweise ja und begleitete meinen vergessenen Freund, wohin auch immer er mich führte.
    Woran ich mich erinnere: Einmal an diesem Abend stand ich allein in einer Ecke des Zimmers. Ich rauchte eine Zigarette und sah mir die Leute an, etliche Dutzend junge Leiber, die sich in dem engen Raum drängten, lauschte dem Brausen aus Worten und Gelächter, fragte mich, was um alles in der Welt ich eigentlich hier zu suchen hatte, und dachte, dass ich jetzt vielleicht gehen sollte. Auf einem Heizkörper links neben mir stand ein Aschenbecher, und als ich mich umdrehte, um meine Zigarette darin auszudrücken, sah ich das mit Kippen gefüllte Behältnis in der Handfläche eines Mannes zu mir hochschweben. Von mir unbemerkt hatten sich zwei Leute auf die Heizung gesetzt, ein Mann und eine Frau, beide älter als ich, zweifellos älter als alle anderen im Raum - er etwa fünfunddreißig, sie Ende zwanzig oder Anfang dreißig.
    Die beiden schienen mir nicht zueinander zu passen, Born in einem zerknitterten, etwas angeschmutzten weißen Leinenanzug mit einem ebenso zerknitterten weißen Hemd unterm Jackett, während die Frau (deren Name Margot war, wie sich herausstellte) ganz in Schwarz gekleidet war. Als ich ihm für den Aschenbecher dankte, nickte er mir knapp und höflich zu und sagte Gern geschehen. Er sprach mit einem hauchzarten ausländischen Akzent, ob französisch oder deutsch, konnte ich nicht erkennen, da sein Englisch nahezu makellos war. Was habe ich in diesem ersten Augenblick sonst noch bemerkt? Blasse Haut, zerzaustes rotes Haar (kürzer geschnitten als bei den meisten Männern in diesen Jahren), ein breites, ansehnliches Gesicht ohne besondere Kennzeichen (ein exemplarisches Gesicht, sozusagen, ein Gesicht, das in der Menge unsichtbar bliebe) und ruhige braune Augen, die forschenden Augen eines Mannes, der sich vor nichts zu fürchten schien. Weder schlank noch beleibt, weder groß noch klein, vermittelte er dennoch den Eindruck von physischer Stärke, was an seinen dicken Händen liegen mochte. Margot saß da, ohne einen Muskel zu bewegen, und starrte ins Leere, als bestünde die Hauptaufgabe ihres Lebens darin, gelangweilt dreinzuschauen. Freilich wirkte sie attraktiv, äußerst attraktiv auf einen
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