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Elsa ungeheuer (German Edition)

Elsa ungeheuer (German Edition)

Titel: Elsa ungeheuer (German Edition)
Autoren: Astrid Rosenfeld
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Jagdhofes –, schilderte jeder Dorfbewohner den Unfall so, als wäre er an diesem Junitag dabeigewesen. Selbst wir Kinder erzählten Jahre später den Sommergästen die Geschichte mit einer solchen Inbrunst, dass sie ständig verwirrt nachfragten: »Und wann war das? Und wie alt bist du?«
    Der Versuch, über das Salatbeet zu springen, schlug fehl. Ich stolperte und knallte hin. Mit einem Stöhnen bückte sich Frau Kratzler über mich und zückte den Kamm. Ich war weder schnell noch stark, aber ein Meister im unkontrollierten Wild-um-sich-Treten. Angefeuert von meinem Bruder und dem Murmeltier, strampelte ich, bis die Kratzlerin aufgeben musste.
    »Karl, heute Abend gibt es kein Essen. Du bringst das arme Herzjesulein wieder zum Weinen. Ein Junge mit so schlechtem Benehmen, Herr im Himmel.«
    Das Herzjesulein weinte laut Frau Kratzler ständig wegen Lorenz und mir. Wir haben ihr das natürlich nie geglaubt. Jemand, der keine einzige Träne vergießt, wenn man ihm einen Haufen Nägel durch die Hände bohrt, fängt ganz bestimmt nicht an zu heulen, nur weil zwei Kinder ein paar Dummheiten machen.
    Frau Kratzler warf den Kamm nach mir, er prallte an meinem Rücken ab.
    Das Murmeltier applaudierte. »Karl, sie hat kapituliert. Du hast sie kleingekriegt.«
    »Kein Essen! Auch für Sie nicht, Herr Murmelstein. Damit wir uns verstanden haben«, brüllte sie zu seinem Fenster hoch.
    »Niemand will Ihr Essen, Kratzler«, schrie er zurück, und sein Bass war um einiges eindrucksvoller als ihr schrilles Gekeife.
    Lorenz und ich hockten auf dem wackligen Geländer der Brücke und warteten auf das Murmeltier. Die Kratzlerin hatte ihre Drohung wahr gemacht und nicht gekocht. Daher führte uns das Murmeltier an diesem Abend aus. In unserem Dorf gab es eine einzige Gaststätte. Den Jagdhof der Wiesingers auf der gegenüberliegenden Straßenseite. 42   Kinderschritte von der einen bis zur anderen Haustür.
    »Glaubst du wirklich, dass sie es getan hat?«
    Seit elf Tagen spekulierten Lorenz und ich darüber, was mit Hannas grüner Mütze geschehen war, und wir hatten den Verdacht, dass Frau Kratzler sie einfach entsorgt haben könnte.
    »Wahrscheinlich«, sagte Lorenz ernst.
    »Wie hat sie es wohl gemacht?«
    »Nachts. Sie ist ins Schlafzimmer geschlichen, hat die Mütze geklaut und sie im Wald verbrannt.«
    Obwohl wir dieses Gespräch in der vergangenen Woche Dutzende Male geführt hatten, hing ich an seinen Lippen. Lorenz war zwei Jahre älter als ich, einen Kopf größer und viele Kilos leichter. Er war mein Beschützer, mein Freund, mein Vorbild. Ein fetter Junge wie ich, der seine Fettheit weder mit Kraft noch mit einem besonderen Talent wettmachen konnte, war das geborene Opfer für den Zorn und die Langeweile der Dorfkinder. Nur meinem Bruder hatte ich es zu verdanken, dass die anderen mich meistens in Ruhe ließen.
    47   Geweihe, ein ausgestopftes Wiesel und 32   Fotografien zierten die Wände des Jagdhofs. Die meisten Bilder zeigten Mathilde. Einerseits empfand die alte Wiesinger eine Wut auf ihre schöne Tochter, die nicht nur ihre Eltern und die Heimat, sondern auch einen gehörnten Ehemann zurückgelassen hatte. Andererseits war sie mächtig stolz auf Mathilde, die sich immerhin einen steinreichen, wohlerzogenen jungen Schweizer geangelt hatte.
    Auf jedem der Bilder lachte die Wiesinger-Tochter. Sie lachte in Schwarzweiß, in Farbe, als Kind, als Mädchen, als Braut.
    Selbst ihr zweidimensionales, stummes Lachen war ansteckend. Ein Blick genügte, und schon schnellten die Mundwinkel des Betrachters nach oben.
    Das Hochzeitsfoto stach mit seinem goldenen Rahmen besonders hervor. Mathildes Kleid konnte nicht verbergen, dass sie bereits schwanger war, als sie Hubertus Gröhler, dem Direktor der Grundschule, das Jawort gab.
    Die Braut lacht, der Bräutigam starrt etwas unsicher in die Kamera, und neben ihnen – halb abgeschnitten und trotzdem ganz überflüssig – steht Gustav Gröhler, Hubertus’ Bruder.
    Am Stammtisch steckte man die Köpfe zusammen. An der Theke redeten Pfarrer Lübbe und der Dorfarzt Doktor Grievenhast hektisch aufeinander ein. Etwas lag in der Luft. Die sonst so lauten Begrüßungen blieben aus.
    Sobald wir saßen, eilte die alte Wiesinger herbei.
    »Herr Murmelstein und meine armen, armen Halbwaisen«, seufzte sie und streichelte Lorenz über den Kopf. Ihre Hand wanderte zu meinem Haupt und verkrampfte augenblicklich beim Kontakt mit meinen Haaren. »Haben Sie es schon gehört?«, fragte die
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