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Elsa ungeheuer (German Edition)

Elsa ungeheuer (German Edition)

Titel: Elsa ungeheuer (German Edition)
Autoren: Astrid Rosenfeld
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in der Lorenz und ich nicht um unsere tote Mutter weinten.
    Elsa beherrschte unsere Gedanken.
    Es war das erste Mal überhaupt, dass wir das Murmeltier nicht anbettelten, uns eine Weibergeschichte zum Einschlafen zu erzählen. Wir liebten seine Ausführungen über die Schnallen und Büchsen aus aller Herren Länder.
    Hanna hatte zum Entsetzen unserer Haushälterin niemals Einwände gegen seine speziellen Gutenachtgeschichten geäußert. Nur bei einem bestimmten Wort, »Fotze«, sollten wir uns die Ohren zuhalten.
    Mama bezeichnete das Murmeltier immer als einen Philosophen, Frau Kratzler nannte ihn einen Schmarotzer. Er wohnte und speiste umsonst bei uns, und unser Vater versorgte ihn mit Zigarren und zahlte seinen Deckel im Jagdhof. Als einzige Gegenleistung kümmerte er sich um die Ponys und brachte den Ferienkindern das Reiten bei. Zu wenig in den Augen der Kratzlerin.
    »Was tun Sie denn bitte den Rest des Tages?«, schnauzte sie bei jeder Gelegenheit.
    »Ich ringe um Erkenntnis. Ich ringe um Erkenntnis.«
    Das Murmeltier hatte Lorenz und mir geschworen, dass er uns seine Erkenntnis, sollte er sie jemals erlangen, als Ersten mitteilen würde. Ständig fragten wir ihn, ob es endlich so weit sei.
    Nicht in dieser Nacht. Elsa beherrschte unsere Gedanken.
    »Ich wette, sie kann gut schwimmen«, sagte ich.
    »Wahrscheinlich, aber nicht so schnell wie ich.«
    »Meinst du, sie wird uns mögen?«
    »Warum soll sie uns nicht mögen?«
    »Dich schon, aber mich?«
    »Dich auch.«
    »Lorenz?«
    »Ja?«
    »Ich hab ein bisschen Angst vor ihr.«
    »Ich nicht.«
    Am nächsten Morgen weckten uns das Gekeife der Kratzlerin und das Brummen des Murmeltiers. In Schlafanzügen stürmten wir aus dem Zimmer und rannten die Treppe hinunter. Nicht nur uns hatte das Geschrei aus dem Bett geholt. Im Halbkreis versammelt standen sämtliche Feriengäste und sahen dem Schauspiel zu. In den Hauptrollen: Frau Kratzler und Herr Murmelstein. In der Nebenrolle, stumm und ahnungslos, der Esel.
    »Er bleibt hier«, sagte das Murmeltier. »Sie werden nicht das Andenken einer Toten schänden.«
    Unsere Haushälterin schüttelte verächtlich ihr Haupt und wollte samt Esel zur Tür hinaus.
    »Kratzler, einen Schritt weiter, und ich bringe Sie um.«
    »Herr im Himmel, heiliges Herzjesulein, was sind das denn für Reden? Was erlauben Sie sich!«
    »Lassen Sie den Esel los. Ich zähle bis drei. Eins…«
    »Warum kann das Viech nicht in den Stall zurück, da wo es hingehört…«
    »Zwei…«
    »Herr Murmelstein, ich arbeite schon mein ganzes Leben lang für diese Familie…«
    »Drei.«
    Zwischen dem ›e‹ und dem ›i‹ ließ Frau Kratzler die Longier-Leine fallen und betrog das Publikum um einen spektakulären letzten Akt.
    Nachdem der Esel wieder sein Zimmer bezogen und das ganze Haus gefrühstückt hatte, packten mein Bruder und ich das erste Mal seit Hannas Tod unsere Schwimmbeutel, um den Tag am Stausee zu verbringen. In der Koppel zeigte das Murmeltier den Ferienkindern, wie man den Ponys das Zaumzeug anlegte, während wir Richtung Hauptstraße schlenderten. »Vielleicht bleiben wir doch hier«, sagte Lorenz, als wir auf der Brücke standen.
    »Ja, wir können auch im Mühlbach schwimmen.«
    »Genau.«
    Man konnte im Mühlbach nicht schwimmen. Nur Hanna hatte es irgendwie fertiggebracht, in dem seichten Wasserlauf ihre Bahnen zu ziehen.
    »Wenn sie zum See will oder zur alten Wiesinger, muss sie hier vorbeikommen«, sagte Lorenz.
    Elsa beherrschte unsere Gedanken.
    Wir hockten uns auf das wacklige Geländer und starrten auf die Straße.
    Es geschah nichts.
    »Sie wird doch auch mal rausgehen?« Mein Bruder klang genervt.
    Eine Weile vertrieben wir uns die Zeit mit Weitspucken und Steinchenschmeißen.
    Es geschah nichts.
    Allmählich bekam ich Angst, dass Lorenz die Lust verlieren könnte, an diesem strahlenden Sommertag eine leere Straße und den verwaisten Parkplatz des Jagdhofs zu observieren.
    Mein Bruder war sprunghaft, man wusste nie genau, wann und warum er einer Sache überdrüssig wurde. Es geschah abrupt, ohne Vorwarnung. Manchmal war es eine Erleichterung. Beim Fußball mit den Nesshauer-Kindern. Drei rothaarige, bösartige Geschöpfe, die mich auf dem Platz foulten, selbst wenn ich in ihrer Mannschaft spielte.
    Bei anderen Gelegenheiten stimmte es mich traurig. Im Frühling hatte Lorenz eine Flotte gezeichnet, die selbst die spanische Armada das Fürchten gelehrt hätte. Stolz präsentierte er mir seine Bleistift-Phantasien: »Unsere
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