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Nicht ohne dich

Nicht ohne dich

Titel: Nicht ohne dich
Autoren: Boje Verlag
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nur an die Sicherheit unserer Freunde; es war ihm gar nicht in den Sinn gekommen, dass sie auch unsere Wohnung verwüsten könnten. Ich schämte mich meiner Feigheit, aber mir krampfte sich immer noch der Magen zusammen vor Angst. Ich wollte zu Mama, doch die besuchte Omi, die die Grippe hatte. Und Karl übernachtete bei Fritz.
    Nebenan polterte und klirrte es, und ich sah kurz vor mir, wie ein Mann Tante Ediths beste Tassen und Untertassen aus ihrem Geschirrschrank fegte. Ich begriff das einfach nicht. Sicher, ich hatte es im Unterricht gehört: »Die Juden sind unser Unglück«, behaupteten die Lehrer. Aber nicht Onkel Markus und Tante Edith, das wusste ich genau, sie waren unser Glück und wundervolle Freunde, und all das war einfach entsetzlich.
    Zu meinen Füßen knurrte Muffi. Ich hätte am liebsten geweint, doch wir mussten still sein, und deshalb legte ich Muffi die Hand über die Schnauze und sagte: »Nein, Muffi.« Ich dachte die ganze Zeit: Warum? Das Wort schien in meinem Schädel widerzuhallen, immer wieder dröhnte es: Warum, warum, warum?, bis es wehtat.
    »Lass sie ruhig bellen«, meinte Katrin. »Bei dem Spektakel, das die veranstalten, hören sie sie sowieso nicht.« Nervös zupfte sie an den Stoffstreifen, die sie sich immer über Nacht in die Haare drehte, damit sie lockig wurden. Sie sollte damit aufhören.
    Onkel Markus ergriff das Wort. »Ich habe für Deutschland gekämpft, ich habe mein Blut für mein Land vergossen, und wenn jetzt Kerle, die sich Patrioten nennen, meine Lebensgrundlage zerstören …«
    » Hör auf , Markus!«, fiel ihm Tante Edith mit schriller, verängstigter Stimme ins Wort.
    »Du kommst nicht gegen sie an, Markus«, mahnte Papa.
    Raffi stand immer noch mitten im Zimmer. Erbittert sagte er: »Wir sind also machtlos, oder? Das halt ich nicht aus.«
    »Ich mache uns allen was Heißes zu trinken«, erbot sich Katrin und stand auf. »Der Junge hat ja schon ganz blaue Füße vor Kälte. Es ist eine Schande …«
    Sie eilte in die Küche und kam nach einer Weile mit Kaffee für die Erwachsenen und heißer Schokolade für mich und Raffi zurück. Eigentlich wollte keiner von uns etwas trinken, aber sie bestand darauf.
    Schließlich war der Krach zu Ende und wir hörten, wie die Männer die Treppe hinuntertrampelten. »Ich schau mal nach, ob sie wirklich fort sind«, sagte Papa. »Falls noch jemand da ist, erzähle ich ihm einfach, wir hätten Lärm gehört und uns gefragt …«
    Onkel Markus sagte: »Ich sollte dich eigentlich begleiten …«, aber Tante Edith hielt ihn am Arm zurück.
    »Sie sind weg«, teilte uns Papa mit, als er zurückkam. »Macht euch auf etwas gefasst. Es ist kein schöner Anblick. Und Jenny, schließ Muffi ein, sie würde sich die Pfoten an den Scherben schneiden.«
    »Raffi …«, setzte Tante Edith mit einem Blick auf seine nackten Füße an.
    »Zieh ein Paar von Karls Schuhen an«, sagte Papa.
    Die Wohnungstür lag geborsten im Eingangsflur. Jemand hatte sie mit der Axt zerhackt. Die Männer hatten die Bilder von den Wänden gerissen und zertreten, der Schrank im Flur war zertrümmert. Den Geschirrschrank im Wohnzimmer hatten sie ebenfalls zerschlagen, überall lagen Glas- und Porzellanscherben. Vom Sofa war nur noch ein Durcheinander aus verbogenen Federn, Bündeln von Pferdehaar, Baumwollwatte und Brokatfetzen übrig. Die Wohnung war kein Zuhause mehr. Am schlimmsten jedoch waren der widerliche, scharfe Gestank in der Luft und die feuchten Spuren auf dem Wohnzimmerteppich. Ich konnte es nicht glauben, aber die Männer hatten tatsächlich auf den Teppich gepinkelt wie Hunde auf die Straße.
    »O Gott«, seufzte Tante Edith. »O Gott.«
    »Ich könnte sie umbringen«, sagte Raffi noch einmal. Seine Stimme zitterte.
    Hinter den Überresten des Sofas sah ich einen Arm hervorragen. Da ist ein Kind, dachte ich, sie haben ein Kind getötet und dagelassen, aber dann begriff ich.
    »Theresia!«, rief ich aus. Es war Tante Ediths große Porzellanpuppe, die sie als Kind bekommen hatte. Ich hatte so gerne mit Theresia gespielt. Aber damit war es jetzt vorbei. Jemand hatte ihr den Kopf eingetreten. Er war nur mehr ein Gewirr aus braunen Haaren und scharfen Porzellanscherben.
    Als ich das sah, musste ich schluchzen, denn Theresia mit ihren großen braunen Augen, ihrem weichen Echthaar und ihrem kleinen, schüchternen Lächeln war für mich wie ein Mensch gewesen. Ich hatte sie geliebt und diese Männer hatten sie getötet. Tante Edith legte die Arme um mich.
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