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Das Meer in deinem Namen

Das Meer in deinem Namen

Titel: Das Meer in deinem Namen
Autoren: Patricia Koelle
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Prolog
     

    Carly starrte auf das fingerlange Schiff in ihrer Hand. Es war das persönlichste Geschenk, das Thore ihr je gemacht hatte. Als der Bus in eine Kurve fuhr, ließ ein Sonnenstrahl den Rumpf honiggolden aufleuchten. Er war aus Bernstein gefertigt. Die Segel aber, die sich in einem unhörbaren zeitlosen Wind blähten, waren aus Silber. Sie spiegelten das Licht und warfen Funken an die schmutzige Buswand.

    Der Bus bewegte sich auf der Landstraße vorwärts wie ein Tropfen, der einen Faden herunter, aber bestimmt nicht wieder hinauf läuft. Die Straße zerschnitt Carlys Leben in zwei Teile. Hinter ihr blieben ihre Freunde zurück und ihre große, aussichtslose Liebe. Vor ihr lag ein unbekanntes Ziel am Meer. Um es zu erreichen, musste sie nicht nur ein uraltes Tabu brechen, sondern obendrein Tante Alissa anlügen, die ihr ein Leben lang Vater und Mutter ersetzt hatte.

    Das Schiff war schuld daran, dass sie hier war, wo sie nicht sein durfte. Schuld daran, dass sie Thores Bitte und endlich ihrer eigenen, verbotenen Sehnsucht gefolgt war.
    Sie konnte sich nicht sattsehen daran, wie das Licht im Inneren des Bernsteins schimmerte. Winzig entdeckte sie ihr Spiegelbild darin, das ihr ratlos entgegenblickte. Doch seltsam – was war das? Neben ihrem eigenen Gesicht sah sie ein zweites. Es war älter und ganz gewiss nicht ihres, und es lächelte sie an.
    Carly drehte sich um, sicher, dass jemand aus der Sitzreihe hinter ihr über die Lehne blickte.
    Aber dort saß niemand. Alle drei Doppelsitze hinter ihr waren frei. Der Bus war nur spärlich besetzt.
    Verwirrt richtete sie ihren Blick wieder auf den Bernstein. Doch auf der blanken Oberfläche war nur ihr eigenes Gesicht zu sehen und ganz im Inneren ein Schatten, der vom Bug zum Kiel huschte und verschwand.
    Wahrscheinlich fehlte ihr Schlaf. Gegrübelt hatte sie reichlich während der letzten warmen Nächte. Sie steckte das Schiff behutsam in ihre Tasche, kuschelte sich in den Winkel, schloss die Augen und dachte an den Sommernachmittag vor kaum zwei Wochen zurück, als sich alles zu verändern begann und ihr Leben zum zweiten Mal unaufhaltsam ins Rutschen kam.

Carly
1999

1. Der Professor und die weißen Zwerge
     

    Thore stand mit anderen Studenten schon vor ihrem Stammlokal, wo sie verabredet waren. Als Carly sich zu der Gruppe gesellte, winkte er sie ein Stück beiseite und legte ihr kameradschaftlich den Arm um die Schultern, wie so oft in den letzten sieben Jahren.
    „Carly, es tut mir leid. Wir bekommen keine Sondergenehmigung mehr. Dein Vertrag läuft Ende des Monats endgültig aus. Du musst dir einen anderen Job suchen. Es wird ja auch Zeit, dass du eine richtige Anstellung bekommst.“
    Carly nickte stumm.
    Einer der Studenten gestikulierte wild.
    „Herr Professor, ich habe eine Frage!“
    „Gleich, gleich! Lasst uns erst reingehen, ich habe Durst!“ Thore scheuchte seine Herde durch das schmiedeeiserne Tor in den Biergarten.
    Carly flüchtete in dem Chaos unbemerkt auf die Toilette.
    Eine Überraschung war Thores Nachricht nicht gewesen, eher die erwartete Katastrophe, die sie bisher erfolgreich verdrängt hatte. Ihr war schwindelig, als hätten seine Worte den Boden verschluckt. Für einen Moment fühlte sie sich wieder sechs Jahre alt und verlassen.

    Als Carly klein war, hatte sie gedacht, der Tod wohne unter Tante Alissas Teppich. Sie stellte ihn sich klein, schwarz und struppig mit gemeinen Augen und einem kahlen Schwanz vor, wie das Plüschtier, das ihr ein wohlmeinender Kollege Tante Alissas einmal mitgebracht hatte. Sie war schreiend davongelaufen und nicht wieder aus ihrem Zimmer gekommen, bis Tante Alissa vor ihrem Fenster das schreckliche Wesen in der Mülltonne entsorgt und einen Stein darauf gelegt hatte.
    Mit dem Tod war das nicht so einfach.
    Es gehörte zu Carlys Aufgaben im Haushalt, freitags die Teppichfransen mit dem Teppichkamm ordentlich zu glätten. Sie machte das immer zuerst und achtete darauf, dass nirgends eine Lücke blieb, durch die der Tod hinausschlüpfen konnte. Danach trat sie sie fest, indem sie drauf entlang lief, sich möglichst schwer machte und dabei sorgfältig einen Fuß vor den anderen setzte.
    Später lernte sie, dass der Tod sich davon nicht einsperren ließ, und noch später, dass er nicht nur dort wohnte. Er steckte in Abständen immer wieder den Kopf in ihr Leben.

    Dann kam ihr Studium und mit ihm Thore Sjöberg. Thores Stimme, sein Augenzwinkern und seine himmelsstürmenden Gesten verscheuchten für
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