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Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook

Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook

Titel: Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook
Autoren: Elif Shafak
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PROLOG
    B ewirkst du etwas, wenn du einen Stein in ein fließendes Gewässer wirfst? Es ist schwer zu erkennen. Dort, wo er die Oberfläche durchbricht, beginnt sich das Wasser zu kräuseln; dann ertönt ein platschendes Geräusch, das gedämpft wird vom Rauschen des Flusses. Mehr nicht.
    Doch wirf einen Stein in einen See. Was das bewirkt, ist nicht nur gut zu sehen, es hält auch sehr viel länger an. Der Stein durchbricht das stille Wasser. Dort, wo er auftrifft, bildet sich ein Kreis, aus dem ein weiterer entsteht und dann noch einer. Nach einem einzigen Steinwurf breiten sich binnen Kurzem die Wellen in Ringen so aus, dass sie überall auf dem Spiegel des Sees zu spüren sind. Erst wenn sie aufs Ufer treffen, machen sie Halt und vergehen.
    Fällt ein Stein in einen Fluss, dann behandelt der Fluss ihn wie jede andere Erschütterung in seinem ohnehin ungestümen Lauf. Nichts von Bedeutung, nichts, dessen man nicht Herr werden würde.
    Fällt der Stein jedoch in einen See, dann wird der See nie mehr so sein wie zuvor.
    Vierzig Jahre lang glich Ella Rubinsteins Leben einem ruhigen Gewässer, es war nichts als eine vorhersehbare Abfolge von Gewohnheiten, Bedürfnissen und Vorlieben. Doch dieses in vielerlei Hinsicht monotone, so ganz und gar normale Leben war ihr nie langweilig geworden. In den zurückliegenden zwanzig Jahren war jeder ihrer Wünsche, jeder Mensch, mit dem sie sich angefreundet, und jede Entscheidung, die sie getroffen hatte, durch den Filter ihrer Ehe gelaufen. David, ihr Mann, war ein erfolgreicher Zahnarzt; er arbeitete hart und verdiente viel Geld. Von Anfang an wusste sie, dass diese Ehe keiner tiefen inneren Verbindung entsprang, aber gefühlsmäßige Verbundenheit stand ihrer Meinung nach nicht unbedingt ganz oben auf der Prioritätenliste eines Ehepaars, vor allem wenn ein Mann und eine Frau schon so lange miteinander verheiratet waren. In einer Ehe gab es Wichtigeres als Liebe und Leidenschaft – gegenseitiges Verständnis beispielsweise, Zuneigung, Mitgefühl und die Fähigkeit, die jeden, der sie besaß, fast gottgleich werden ließ – die Fähigkeit zu verzeihen. Verglichen damit war die Liebe etwas Nebensächliches. Es sei denn, man lebte in Schnulzenfilmen oder Schmökern – dort hatten die Hauptfiguren immer etwas Übermenschliches, und ihre Liebe grenzte immer ans Sagenhafte.
    An erster Stelle auf Ellas Prioritätenliste standen ihre Kinder. David und sie hatten eine wunderschöne Tochter, Jeannette, die aufs College ging, und Zwillinge im Teenageralter, Orly und Avi. Außerdem hatten sie einen zwölf Jahre alten Golden Retriever namens Spirit, der Ella schon als Welpe auf ihrer morgendlichen Runde begleitet hatte, ein stets aufmunternder Gefährte an ihrer Seite. Jetzt war er alt, übergewichtig, vollkommen taub und nahezu blind. Bald würde seine Zeit gekommen sein, aber Ella machte sich lieber vor, er würde ewig leben. So war sie nun mal. Nie setzte sie sich mit dem Ende von irgendetwas auseinander, sei es das Ende einer Gewohnheit, einer Phase oder einer Ehe – nicht einmal wenn es ihr klar und unausweichlich vor Augen stand.
    Die Rubinsteins wohnten in Northampton, Massachusetts, in einem großen viktorianischen Haus, das zwar renovierungsbedürftig, aber immer noch prachtvoll war. Fünf Schlafzimmer, drei Bäder, glänzende Hartholzböden, Dreiergarage, Flügeltüren und, das Beste von allem, ein Whirlpool im Freien. Sie hatten Lebensversicherungen, Kraftfahrzeugversicherungen, einen Sparvertrag für die Altersvorsorge, einen Finanzierungsplan für die Collegeausbildung, gemeinsame Bankkonten und besaßen zusätzlich zu dem Haus, in dem sie lebten, zwei repräsentative Wohnungen, eine in Boston, die andere in Rhode Island. Für all das hatten David und sie hart gearbeitet. Ein großes Haus voller Leben, ein Haus mit Kindern und eleganten Möbeln und dem Duft von selbst gebackenem Kuchen mag dem einen oder anderen klischeehaft erscheinen, aber für David und Ella entsprach es dem Abbild eines idealen Lebens. Um diese gemeinsame Vorstellung herum hatten sie ihre Ehe gebaut und das meiste von dem, was sie sich erträumt hatten, wenn nicht sogar alles, erreicht.
    Zum letzten Valentinstag hatte Ella von ihrem Mann einen herzförmigen Diamantanhänger geschenkt bekommen und eine Karte mit folgenden Zeilen:
    Für meine liebe Ella –
    die so viel Ruhe ausstrahlt, ein so großes Herz hat und über eine Engelsgeduld verfügt. Danke, dass Du mich nimmst, wie ich bin. Danke, dass Du
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