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Nicht ganz schlechte Menschen

Nicht ganz schlechte Menschen

Titel: Nicht ganz schlechte Menschen
Autoren: H Krausser
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bezahlt, auf der Beerdigung von Gottes unergründlichem
Ratschluß, der zwei so junge Leben zu sich abberufen habe. Wenige Stunden zuvor
hatten deutsche Truppen die polnische Grenze überschritten.
    Vom Wirken der Loewes kam beinahe nichts auf die Nachwelt.
Immerhin hatte Max auf verschlungenen Wegen der französischen Republik zu
40.000 Francs verholfen, genug, um die Kosten der Produktion von vier
großkalibrigen Granaten zu decken.
    Ellie Jakobowski blieb der Beerdigung fern, um Pierre
nicht zu begegnen, der allerdings erst Tage später vom Schicksal seiner
vermeintlichen Schwager erfuhr. England und Frankreich erklärten Deutschland
den Krieg. Ellie trieb sich noch ein paar Wochen ziellos in Paris herum, buchte
dann eine Schiffspassage nach Algier. Wo sich ihre Spur verliert. Im November
1939 überwies sie ihrem Gatten die Summe von hunderttausend Francs.
    Zwei der drei Schließfächer im Gare du Nord brach man nach 72
Stunden auf und öffnete die Koffer. Die gefundene Kleidung wurde der Wohlfahrt
gestiftet. Zwei falsche Pässe wurden als falsch nicht erkannt. Ein Polizist
zerschnitt sie.
    Max Loewes hinterlassenes Manuskript von über 500 Seiten in enger
Handschrift sowie eine nicht ganz vollständige Maschinenabschrift landeten,
nachdem ein halbes Jahr niemand Anspruch darauf geltend gemacht hatte,
ungelesen im Müll. Nicht aus Desinteresse, sondern um den Bestimmungen zum
Schutz der Persönlichkeitsrechte Verstorbener Genüge zu tun.
    Der Roman wäre fast beendet gewesen. Nur ein letztes Kapitel fehlte,
von dem bereits die Überschrift existierte: AMERIKA .
    Der Verbleib von Xavier Chapelle blieb ungeklärt. Jemand, ein recht
enger Freund, wollte ihn quicklebendig in Toulouse gesehen haben. Eine
männliche, stark verweste Leiche, die man aus der Seine heraufgefischt hatte,
sah ihm angeblich ähnlich. Es gab auch Berichte, vielmehr Gerüchte, daß er sich
nach Argentinien oder Neufundland abgesetzt habe.
    Während des gesamten Weltkriegs wartete Pierre auf ein Lebenszeichen
von Ellie.
    1956 nahm er sich, unheilbar an Lungenkrebs erkrankt, mit Hilfe von
Schlaftabletten das Leben. Ohne je eine neue Bindung eingegangen zu sein.
    Juan Rodrigo saß unter Franco einige Wochen im Gefängnis, bevor er
Spanien in Richtung Portugal verließ und dort, wieder als Ines Rodrigo , sein neues
altes Leben begann. Das letzte Lebenszeichen datiert aus dem Jahr 1973.
    Eric Blair wurde zu einem der bedeutendsten englischsprachigen
Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. Eileen O’Shaughnessy, seine Frau, starb
1945 tragisch während einer Routineoperation, bei der der Anästhesist versagte.
    Der Film, den Johannes Marcowitz von der Hinrichtung Weidmanns
drehte, kann heute im Internet leicht gefunden und angesehen werden.
    Herschel Grynszpan blieb, ohne Prozeß, zweiundzwanzig Monate
inhaftiert. Nach Ausbruch des Krieges wurde er in den Süden des Landes verlegt,
wobei er durch eine Bombardierung des Zuges kurzzeitig die Freiheit erlangte.
Er ließ die Chance unterzutauchen verstreichen, stellte sich erneut den
französischen Behörden, zuerst im Gefängnis von Bourges, wo ihn ein
Staatsanwalt laufen ließ, dann in Toulouse. Nach der Besetzung Frankreichs
wurde er nach Deutschland ausgeliefert und dort, vermutlich im August oder
September 1942, im  KZ Sachsenhausen erhängt. Der in großem Format gegen ihn als Agenten eines kriegstreibenden
Weltjudentums geplante Prozeß war den Nazis zu riskant, da zu
befürchten war, daß Herschel seine homosexuelle Beziehung zu Ernst Eduard vom
Rath offenlegen würde.
    Dr. Joseph Goebbels schrieb in sein Tagebuch, dies sei natürlich nur eine freche
jüdische Lüge, aber immerhin geschickt erdacht.

NACHBEMERKUNG
    Viele
Eindrücke und Informationen vom Leben in Paris und im Spanien des Bürgerkriegs
habe ich Kollegen zu verdanken, allen voran dem großen George Orwell und dessen
Erfahrungen an der Front von Huesca. Das Rennbahnunglück am Ende des Buches
kann glücklicherweise so nie stattgefunden haben, Ende August gab es in Paris
keine Pferderennen mehr. Eine weitere Freiheitsnahme ist das Jesuitenkolleg in
Potsdam, das dort nie existiert hat, wohl aber in Berlin, wo es noch heute
steht. Die Darstellung der Erschießungen auf dem Gefängnisschiff Urugay (die sich wohl über drei Tage
hingezogen haben) wurde stark gerafft. 2002 traf ich auf der Pariser Buchmesse
Elodie Bouchard, die Tochter von Luc, dem Küchenjungen. Er wollte Herschel
Grünspan noch persönlich begegnet sein und erzählte
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