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Nicht ganz schlechte Menschen

Nicht ganz schlechte Menschen

Titel: Nicht ganz schlechte Menschen
Autoren: H Krausser
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gehen.
Karl war einverstanden. Glücklicherweise hatte er sich vor den Semesterferien
alle notwendigen Bescheinigungen über sein Studium besorgt. Offiziell würden
sie, wie viele andere auch, New York als Besucher der dort gerade stattfindenden
Weltausstellung betreten. Und wenn es Schwierigkeiten mit der
Aufenthaltserlaubnis gab, so wollten die drei weiter nach Toronto
ziehen. Kanada zeigte sich weniger pingelig, was europäische Immigranten
betraf. Soviel Aussicht auf Neues schien sagenhaft.
    Die drei aßen vorzüglich zu Abend im Au Caneton , danach liefen
sie zu Fuß in Richtung Montmartre. Im Bewußtsein, dies für lange Zeit zum
letzten Mal zu tun.
    Man sollte, meinte Max, jeden Tag so leben, als sei er der letzte,
voller Genuß, mit geschärften Sinnen für die Herrlichkeit des Daseins.
    Im übrigen wurde ihnen ein Schauspiel der besonderen Art geboten.
Paris übte die Verdunkelung. Statt der prächtigen Illuminationen sorgten auf
den Hauptverkehrsadern sowie in der Nähe der Bahnhöfe nur ein paar Laternen,
die dazu noch blau umhüllt waren, für ausreichend Licht, um den Straßenverkehr
aufrechtzuerhalten. Welchen Sinn das zum momentanen Zeitpunkt haben sollte, war
schwer zu erklären, aber es verlieh der Stadt einen ganz eigenen blauschwarzen
Zauber. Die Bevölkerung war nervös, aber gefaßt. Man würde sich nichts gefallen
lassen, hieß es überall.
    In der Pariser Tageszeitung wurden deutsche Exilanten, die nicht
freiwillig und selbstverständlich auf seiten der Demokratie zu den Waffen eilen
würden, als Elende bezeichnet. Max nahm es mit Humor; Karl verzichtete auf einen Kommentar. Ein
wenig elend war ihm tatsächlich, aber das konnte von den Muscheln kommen.
    Am Place Pigalle, in einem der überteuerten Etablissements, sahen
die Elenden eine frivole, leidlich unterhaltsame Show, danach tranken und tanzten sie bis
vier Uhr, bevor sie in einer Frühbar Milchkaffee tranken und einem der vielen
Drogenhändler ein Gramm stark verschnittenes Kokain abkauften, zur Feier des
Tages. Danach schliefen sie nahe der Sacré-Cœur drei Stunden lang im Gras, bis
die Sonne sie weckte. Bei Ellie war es eine Schnecke an ihrem Hals. Das brachte
Max auf eine Idee. Er wollte einem alten Bekannten Adieu sagen.
    Um acht Uhr morgens wurde der Friedhof Montmartre geöffnet. Sie
gingen zum Grab Heinrich Heines, auf dessen Grabplatte sie (Heilige Dekadenz!
Ist doch affig irgendwie. Egal jetzt!) das Kokain schnupften. Karl zeigte sich
enttäuscht, weil er kaum Wirkung spürte. Er hatte soviel Adrenalin im Körper,
daß die Wirkung des Rauschgiftes darin aufging. Zusammen mit Max rekonstruierte
er aus dem Gedächtnis eine Prophezeiung Heines, die genauso gut einmal Zanoussi
im Suff von sich gegeben haben könnte:
    Der Gedanke geht der Tat voraus, wie der Blitz dem Donner. Der deutsche
Donner ist freilich auch ein Deutscher und ist nicht sehr gelenkig und kommt
etwas langsam herangerollt; aber kommen wird er, und wenn Ihr es einst krachen
hört, wie es noch niemals in der Weltgeschichte gekracht hat, so wißt: der
deutsche Donner hat endlich sein Ziel erreicht. Bei diesem Geräusche werden die
Adler aus der Luft tot niederfallen, und die Löwen in der fernsten Wüste
Afrikas werden die Schwänze einkneifen und sich in ihre königlichen Höhlen
verkriechen. Es wird ein Stück aufgeführt werden in Deutschland, gegen das die
französische Revolution nur wie eine harmlose Idylle erscheinen möchte.
    Sie lasen einander auch das formal etwas ungelenke, dennoch
wirkungsvolle Gedicht auf der Grabplatte laut vor, womit sie argwöhnische
Blicke umtriebiger Witwen auf sich lenkten.
    ELLIE:
    Wo
wird einst des Wandermüden
    Letzte
Ruhestätte sein?
    Unter
Palmen in dem Süden?
    Unter
Linden an dem Rhein?
    MAX:
    Werd
ich wo in einer Wüste
    Eingescharrt
von fremder Hand?
    Oder
ruh ich an der Küste
    Eines
Meeres in dem Sand.
    KARL:
    Immerhin
mich wird umgeben
    Gotteshimmel,
dort wie hier,
    Und
als Totenlampen schweben
    Nachts
die Sterne über mir.
    Max wunderte sich darüber, daß in jenen Versen das Wo eine so große Rolle spielte, während es Heine
anscheinend egal war, neben wem (nämlich seiner Frau
Mathilde) er hier zu liegen kam. Mir wird das mit dir einmal nicht passieren, sagte er Ellie ins Ohr. Die
bedankte sich graziös mit einem höfischen Knicks.
    Karl fand, es
sei zu morbid auf diesem Friedhof. Laßt uns was anderes unternehmen! Es war
Sonntag. Sie besorgten sich eine Zeitung. Wegen der politischen Entwicklungen
waren nahezu alle
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