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Nicht ganz schlechte Menschen

Nicht ganz schlechte Menschen

Titel: Nicht ganz schlechte Menschen
Autoren: H Krausser
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Sportereignisse von Bedeutung in Frankreich abgesagt. Einzig
in Longchamp gab es noch einmal, außerhalb der Saison, ab 13 Uhr Pferderennen.
Das war eine Idee. Vorher würden sie auf dem Boulevard Haussmann ein
Sektfrühstück genießen, mit Lachs und Ei und einer
Schnittlauch-Meerrettich-Remoulade. Danach nahmen sie ein Taxi zum Gare du
Nord, zogen sich im Bahnhofswaschraum um (ihre Kleidung war naßgeschwitzt,
fleckig vom Gras, in dem sie geschlafen hatten) und fuhren den letzten
Kilometer mit einem Seinedampfer zur Anlegestelle des Hippodrome Longchamp .
    Wegen des enormen Besucherandrangs, es war sonst ja nicht viel los,
hatte man auf der Gegengeraden ein Behelfsgerüst errichtet; ein Sitzplatz dort
kostete fünfzehn Francs. Über zwanzigtausend Menschen wollten die Rennen sehen. Zahn zu! rief Ellie, der es nicht schnell genug gehen konnte.
    Es war heiß, der Spätsommer hatte viele lästige Insekten
ausgebrütet. Karl gab seinem Bruder einen freundschaftlichen Klaps auf die
Schulter, eine kleine, doch bedeutungsschwere Geste der Versöhnung, die jener
nicht wahrnahm, denn er war in ein Gespräch mit Ellie verwickelt.
    Weißt du, ich genieße das Leben gerade sehr. Früher
glaubte ich an eine natürliche Lebensmüdigkeit. Jetzt nicht mehr. Wären wir
unsterblich, ginge immer alles weiter. Ich glaube nicht, daß es je wirklich
langweilig wäre. Man würde hin und wieder etwas Neues ausprobieren und es sich
ansonsten schön einrichten im Leben, man hätte ja Zeit genug zu sparen, sich
nach und nach etwas zu erarbeiten.
    Ellie fragte, was er denn mit Unsterblichkeit meine? Ewige Jugend?
    Ja, sicher, ewige Jugend.
    Aber dann hätte man ja um so mehr Angst vor einem Unfall oder
Unglück.
    Das mag stimmen, gab Max zu.
    Und wenn nur Zeit genug vergeht, hat jeder Mensch einmal einen
Unfall, auch einen tödlichen. Unsterblichkeit gibt es nicht.
    Außer für Götter. Sagte Max.
    Die können aber auch nicht sicher sein. Wenn Nietzsche kommt –
    Max brach, ungewöhnlich genug für ihn, in schallendes Gelächter aus.
Nein, du hast recht. Er küßte Ellie voller Liebe auf die Stirn. Wenn Nietzsche
kommt, ist niemand mehr sicher.
    Ellie mußte jetzt selbst lachen. Er habe etwas für sie geschrieben,
sagte Max und drückte ihr einen Zettel in die Hand. Sie las es.
    Das ist sehr niedlich, sagte Ellie. Warum reimt sich die
letzte Zeile nicht?
    So etwas komme in der Lyrik nunmal vor, behauptete Max.
    Ich finde es auf jeden Fall ganz wunderbar , lobte
Ellie.
    Wirklich?
    Ja, wirklich, es hat was!
    Danke. Du machst mich glücklich. Er strahlte.
    Ellie strich ihm über die Wange, küßte seinen Hals und
fragte, ob er nicht Durst habe? Er verstand das als Hinweis, eine Runde
auszugeben, und drückte ihr seinen größten verfügbaren Geldschein in die Hand.
Sofort lief Ellie los, um an der Bar drei Gläser Champagner zu holen. Karl
döste derweil in der Sonne. Mit geschlossenen Augen und einem zufriedenen Zug
um die Mundwinkel lehnte er den Kopf zurück und dachte an diverse Stunden mit
der schönen Claudette. Unten, auf der Rennbahn, wurden die Pferde zum Start in
die Boxen gezwungen. Eines wieherte und schlug aus. Was etliche Berufswetter
dazu brachte zu murren, laut zu fluchen und ihre schon plazierten Wetten im
letzten Augenblick zu bedenken.
    Es war Nachmittag, kurz vor halb zwei. Weder die direkt
Verantwortlichen noch die Polizeisprecher noch die sonst allwissenden Zeitungen
konnten hinterher einen plausiblen Grund dafür nennen, warum das Gerüst aus
Holzplanken und Stahlrohren, auf dem in diesem Moment beinahe dreihundert Menschen
saßen, mit einem ohrenbetäubenden Krach in sich zusammenstürzte. Ellie, die
eben mit den Getränken zurückeilte, um noch vor dem Start des Rennens wieder
auf ihrem Platz zu sitzen, erschrak so sehr, daß sie die Gläser fallen ließ und
schrie.
    Insgesamt starben bei dem Unglück dreiundzwanzig Menschen. Max und
Karl waren augenblicklich tot.
    In Max’ Taschen eingenäht wurden Diamanten im Wert von
etwa 40.000 Francs gefunden. Pierre Geising mußte feststellen, daß sein
Bankschließfach zu fünfzig Prozent Glasimitate enthielt. Er verzichtete darauf
zu klagen; die Diamanten wurden, da keine natürlichen Erben ermittelt werden
konnten, dem Staat Frankreich zugesprochen.
    Am ersten September wurden Max und Karl Loewe auf dem
Cimetière Parisien des Batignolles zur letzten Ruhe gelegt, keine zweihundert
Meter vom Grab Zanoussis entfernt. Ein lutheranischer (!) Priester redete,
dafür wurde er
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