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Nicht ganz schlechte Menschen

Nicht ganz schlechte Menschen

Titel: Nicht ganz schlechte Menschen
Autoren: H Krausser
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plötzlich im Zimmer und sah mich an. Es war so gruselig, ich
habe mich gefürchtet. Binnen einer Sekunde war mein Weltbild ein anderes. Julie
stand da, tat nichts, sagte nichts, sie leuchtete kurz auf und verschwand. Das
erschien mir als Botschaft eher wenig, aber weißt du, Pierre, ich habe darüber
nachgedacht und immer wieder darüber nachgedacht. So wenig ist das nämlich gar
nicht. Wir alle leuchten kurz auf und verschwinden, sind da und tun Dinge. Dann
nicht mehr.
    Was willst du mir damit sagen? Ich verstehs nicht.
    Wir lieben Menschen, ohne viel von ihnen zu wissen. Ellie hat eine
Vergangenheit. Sie arbeitet schwer daran, künftig nur noch eine Zukunft zu
haben. Und die heißt Amerika. Du bist Pierre, ein freundlicher Mensch. Amerika
wirst du nie sein. Im Vergleich mit einem Kontinent den kürzeren zu ziehen, ist
keine Schande.
    Aha. Wieso, aus welchem Grund, willst du Julie gesehen haben? Ich
begreife langsam gar nichts mehr. Du verwirrst mich. Was genau meinst du mit: Ellie hat eine
Vergangenheit?
    Max bemerkte, daß irgendein wildgewordener Gaul mit ihm
durchgegangen war. Er hielt den Moment für geeignet, Pierre alleinzulassen in
seinem Büro. Ohne weitere Erklärungen abzugeben. Was eben noch einem
glorreichen Abgang gleichgekommen wäre, ähnelte nun einem verschämten Rückzug.
    Pierre, in seiner so fahrlässig wie unnötig entfachten
Neugier, wandte sich an Karl, der die halbe Nacht bei Claudette verbracht hatte
und etwas übermüdet wirkte.
    Du bist mir ein Freund, nicht wahr?
    Sicher doch, warum?
    Max hat mir von Ellies Vergangenheit erzählt.
    Ach, wirklich?
    Nicht viel, nicht genug, und ich weiß nicht, wie ich damit umgehen
soll. Sie hätte das nicht vor mir geheimhalten müssen. Man kann über alles
reden. Finde ich.
    Karl überlegte daran herum, was genau Pierre hören wollte und
wieviel er bereits wußte.
    Ja nun. Vergangenheit – wer hat die nicht?
    Pierre sah seinen Bluff bereits verpuffen.
    Hör zu, ich weiß ja, daß ich Ellie nicht als Jungfrau bekommen habe,
aber sag mir doch einmal, wie viele Männer sie ungefähr hatte vor mir.
    Karl dachte nach. Na, ob ich dir da helfen kann, murmelte er, frag
sie doch lieber mal selbst. Hast du sie denn nie gefragt? So was macht man
doch, im allgemeinen.
    Ich nicht, das ging mich nichts an.
    Und jetzt geht es dich plötzlich was an? Karl suchte einen Ausweg
aus der Situation, die ihm unangenehm wurde. Er tat, als würde er sich in
Geschriebenes vertiefen. Auf dem Abstelltischchen neben der Rezeption lagen für
die Hotelgäste kostenlose Zeitungen und Äpfel aus. Sein umherschweifender Blick
blieb an etwas hängen.
    Naja, dein Bruder meinte, sie hätte keinen so lange geliebt wie
mich. Das klang irgendwie – vielleicht bilde ich es mir nur ein …
    In der Leitglosse, links oben auf der ersten Seite der Pariser
Tageszeitung, fiel Karl ein Satz auf:
    Das Ereignis, das gestern alle Gegner des
Hitlerismus in tiefste Bestürzung versetzte …
    Jetzt
erst las er die Schlagzeile: Darin war etwas von einem PAKT MOSKAU–BERLIN zu lesen.
    Er setzte sich, machte gegenüber Pierre eine abwehrend-verschiebende
Geste und überflog die Zeilen:
    … sei
es unendlich wichtig, den Irrtum zu überwinden, daß eine Diktatur roter Färbung
etwas wesentlich anderes sei als eine Diktatur im braunen Gewande. Wenn aus dem
gestrigen Erlebnis etwas zu lernen ist, dann dies: Daß zwischen den Systemen,
die in Berlin und Moskau regieren, eine tiefe innere Verwandtschaft besteht,
eine geistige Bruderschaft, die bisher nur kaschiert war.
    Das waren für die linksgerichtete, sonst linientreue Pariser
Tageszeitung ungewöhnlich harsche Worte. Weiter hieß es:
    Es
kann einen freilich um die Millionen ehrlichen Menschen aller Nationen
erbarmen, die unerschütterlich an das Licht aus dem Osten glaubten, denen
Moskau als der einzige Feind des Hitlerismus erschien, und die nun schaudernd
erleben, daß dem Hitler-Regime, in einer Lage, die ihm tödlich zu werden
drohte, gerade im Kreml ein unerwarteter Helfershelfer ersteht.
    Karl? Was hast du denn? Redest du noch mit mir? Du mußt ja
nicht indiskret sein. Eine Andeutung genügt …
    Karl sah Pierre an. Und forderte ihn auf, bitte einmal
still zu sein. Halt
für zwei Sekunden den Rand! So lauteten exakt seine Worte.
    In
den politisch interessierten Kreisen Deutschlands wurde die Nachricht vom Pakt
euphorisch aufgenommen. Das Schicksal Polens sei damit besiegelt, hieß es
inoffiziell aus Berlin, es würden bereits Karten vom neu
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